Die Braut im Schnee
rumorte in seinem Kopf. Kaum hatte er sich aus seinem Sessel erhoben, wurde ihm schwarz vor Augen. Seine Knie zitterten. Um nicht umzufallen, stützte er sich an der Tischkante ab und atmete mehrmals tief durch. Dann ging er mit unsicheren Schritten ins Badezimmer,öffnete den Spiegelschrank und entnahm einer der zahllosen Medikamentenschachteln zwei Schmerztabletten. Er füllte ein Glas mit Leitungswasser und trank es in einem Zug leer. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, fühlte er sich besser. In der Küche schaltete er die Herdplatte ein, füllte die Cafetiere und wartete, bis der Espresso durchgelaufen war.
Er hatte gerade den ersten Schluck genommen, als im Nebenzimmer das Telefon läutete. Sein Herz machte einen Sprung. Er stellte die Tasse ab und hatte noch vor dem dritten Klingeln den Hörer in der Hand.
«Tereza», sagte er. «Endlich!»
Als sich am anderen Ende niemand meldete, merkte er, dass er sich getäuscht hatte. Dann war ein Kichern zu hören und kurz darauf die Stimme eines Jungen: «Entschuldigung», sagte der Junge, «ich muss mich wohl verwählt haben.»
«Ja», sagte Marthaler und legte auf.
Er ging zurück in die Küche und trank seinen Kaffee. Er überlegte, was er jetzt tun konnte. Schlafen, so viel war sicher, würde er nicht mehr können. Dann fasste er einen Entschluss. Er nahm das Telefonbuch, wählte die Nummer der Taxizentrale und bestellte einen Wagen. Er wollte bereits die Wohnungstür hinter sich ins Schloss ziehen, als ihm noch etwas einfiel. Er zog seinen Mantel wieder aus, ging zurück zu dem langen Flurschrank, nahm das Holster mit seiner Dienstwaffe und schnallte es sich um. Dann wechselte er die Batterien der kleinen LE D-Leuchte , die er meistens bei sich trug, ließ die Lampe in seine Manteltasche gleiten und verließ die Wohnung.
SECHS
Als er vor dem Haus auf dem Bürgersteig stand, atmete er mehrmals tief durch. Die frische Nachtluft tat ihm gut. Langsam ließ sein Kopfschmerz nach. Dann sah er die Scheinwerfer des Taxis, das sich langsam näherte. Offensichtlich hatte der Fahrer Mühe, in der Dunkelheit die Hausnummern zu erkennen. Marthaler machte ein paar Schritte in Richtung einer Laterne, dann trat er auf die Straße und winkte den Wagen heran. Er setzte sich auf die Rückbank und nannte sein Ziel.
Die nächtlichen Straßen waren leer. Nach zehn Minuten hatten sie den Kreisel in der Ortsmitte von Oberrad erreicht.
«Haben Sie schon von dem Mord gehört?», fragte der Fahrer und schaute in den Rückspiegel.
«Ja», antwortete Marthaler. «Sie können hier halten. Ich brauche eine Quittung.»
Er zahlte und stieg aus. Die Luft war kalt und feucht. Am Himmel war kein Stern zu sehen, und den Mond konnte man hinter den dichten Wolken nur ahnen. Er knöpfte seinen Mantel zu und lief los. Niemand begegnete ihm. Nur vereinzelt brannten in den Wohnungen Lichter. Bald hörte die Bebauung auf.
Als er sich dem Haus von Gabriele Hasler näherte, verlangsamte er seinen Schritt. Er überlegte, wie der Täter hierher gekommen war. War er ebenfalls zu Fuß aus dem Ort die Straße hinabgelaufen? Hatte er seinen Wagen benutzt? Die S-Bahn ? Oder wie Marthaler ein Taxi? Hatte er schon auf sein Opfer gewartet? Oder war die Zahnärztin bereits zu Hause gewesen, als ihr Mörder gekommen war. Und gab es wirklich niemanden, der ihn gesehen hatte?
Marthaler stutzte. In der Einfahrt zum Hof stand, halb verborgen hinter dem struppigen Gebüsch, ein Auto. Als er näher kam, erkannte er, dass es ein Streifenwagen war. Ihm fiel wieder ein, dass Walter Schilling die Kollegen der Schutzpolizei gebeten hatte, den Tatort bis auf weiteres zu bewachen. Marthaler schaute durch die Windschutzscheibe. Im Fond des Wagens saßen zwei Uniformierte. Beide waren eingeschlafen. Er wurde wütend und war nahe daran, die beiden zu wecken, um sie wegen ihrer Nachlässigkeit zur Rede zu stellen. Dann beschloss er, sie schlafen zu lassen. So würde er wenigstens nicht erklären müssen, was er nachts hier zu suchen hatte.
So leise wie möglich entfernte er sich von dem Streifenwagen. Immer wieder knipste er kurz seine Taschenlampe an, um auf dem unwegsamen Grundstück nicht zu stolpern. Er ging um das Haus herum, bis er die kleine Steintreppe erreicht hatte, die zum Keller hinunterführte. Mit einer Hand auf dem eisernen Geländer ging er vorsichtig die fünf Stufen hinab. Er tastete nach der Klinke und drückte sie langsam herunter. Es war, wie er gehofft hatte: Die Tür war noch immer
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