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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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zu müssen, was für eine Frau sie gewesen war, um verstehen zu können, was hier in der vergangenen Nacht geschehen war. Warum war ausgerechnet sie das Opfer eines so außergewöhnlichen Verbrechens geworden? Es musste irgendetwas gegeben haben, das den Täter angelockt hatte, etwas an ihrem Aussehen, ihrem Charakter. Oder ein Ereignis in ihrer Vergangenheit.
    Er griff in seinen Mantel, zog seine Brieftasche hervor und nahm den Zeitungsartikel mit dem Foto von Gabriele Hasler heraus, den ihm Marlene Ohlbaum gegeben hatte. Er schaute das Bild lange an. Die Zahnärztin war eine schöne junge Frau gewesen. Das mittelblonde Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel ihr bis auf die Schultern. Obwohl er in ihren Zügen noch fast den Ausdruck eines Mädchens zu erkennen glaubte, sah man um die Augen erste Fältchen. Sie lächelte, aber ihr Lächeln war nicht unbeschwert. Ihre Fröhlichkeit ist auf der Hut, dachte Marthaler. Sie mag das Leben, aber sie hat nicht immer gute Erfahrungen gemacht. Ihr Gesicht drückt etwas Uneinheitliches aus. Wie diese Räume, wie dieses Haus.
    Er begann, den Text des Zeitungsartikels zu lesen, den er am Mittag in der Praxis nur überflogen hatte. Gabriele Hasler hatte dem Journalisten vom Spaß an ihrem Beruf erzählt, aber auch von den Schwierigkeiten, sich als Zahnärztin selbständig zu machen. Sie berichtete, dass sie gemeinsam mit einer Freundin ihr Studium begonnen habe und dass sie beide sich für einige Zeit eine kleine Wohnung in Bockenheim geteilt hätten. Die folgenden Sätze weckten Marthalers Aufmerksamkeit: «Fast meint man, eine Spur von Wehmut in der Stimme der jungen Medizinerin zu hören, als sie von ihren ersten Studienjahren spricht. Als sei das Glück dieser Zeit für immer vorbei. Über ihr Privatleben mag Gabriele Haslernicht reden. Immerhin verrät sie unseren Lesern nach einigem Zögern, dass sie sich vor kurzem verlobt hat.»
    Obwohl es sich um einen der üblichen harmlosen Berichte im Lokalteil handelte, kam dem Hauptkommissar dieser Absatz bedeutsam vor. Er las ihn ein weiteres Mal, und wieder hatte er den Eindruck, dass er ihm etwas über die Frau verriet. Dann faltete er den Artikel zusammen und steckte ihn zurück in seine Brieftasche.
    Er knipste das Küchenlicht aus und stieg hinauf in den ersten Stock. Hinter der Tür, die er öffnete, befand sich ein großes Schlafzimmer. Er zögerte einen Moment, bevor er den Raum betrat. Selbst wenn es sich um das Opfer eines Mordes handelte, hatte er Scheu, in die Privatsphäre einer fremden Person einzudringen. Er schaute sich um. Wieder hatte er den Eindruck, dass die Einrichtung mindestens dreißig Jahre alt war. Den meisten Platz nahm ein französisches Doppelbett ein, dessen Rahmen mit dunkelbraunem Kord bezogen war. Die Kollegen der Spurensicherung hatten die Bettwäsche abgezogen, um sie im Labor zu untersuchen. An der Wand hing ein dreiteiliger Spiegel, dessen Außenflügel beweglich waren. Davor stand ein schmaler, länglicher Schminktisch und ein einfacher Küchenstuhl, darunter eine Personenwaage.
    Marthaler trat neben das Bett und öffnete die Schublade des Nachtschränkchens. Einige Medikamentenschachteln befanden sich darin, eine Ersatzbirne für die Leselampe, ein paar Schreibstifte, ein Schlüsselbund, ein Maßband, ein Mäppchen mit Nähzeug, eine Streichholzschachtel, die den Werbeaufdruck einer Hotelpension in Bockenheim trug, und eine angebrochene Packung mit Papiertaschentüchern. Als er die Schublade ein Stück weiter herausziehen wollte, merkte er, dass sie klemmte. Er griff hinein und zog ein Päckchen mit Kondomen hervor. Er überlegte, ob der Umstand, dass Gabriele Hasler diese Schachtel ganz hinten in ihrer Schubladeverborgen hatte, etwas zu bedeuten habe, kam aber zu keinem Ergebnis.
    Dann begann er, den Kleiderschrank zu untersuchen. Er schaute sich die Blusen, Röcke und Hosen an. Immer wieder stellte er sich Tereza in diesen Kleidern vor. Er war sich sicher, sie würden ihr gefallen. Anders als auf die Einrichtung ihres Hauses schien die Zahnärztin auf ihre Garderobe großen Wert gelegt zu haben. Auch wenn ihre Kleidung nicht teuer gewesen sein mochte, so war sie doch umso geschmackvoller.
    Marthaler wollte die schwere Schiebetür bereits wieder schließen, als er eine Entdeckung machte. Er nahm einen Stapel mit Winterpullovern vom obersten Schrankbrett, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog eine große schwarze Plastiktüte hervor. Er öffnete die Tüte, schaute hinein und stutzte.

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