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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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hatte er sich so zutiefst zerrüttet gefühlt wie jetzt in der feuchten Kälte auf diesem dunklen Autobahnparkplatz zwischen Frankfurt und Offenbach.
    Ein paar Meter weiter stand ein junger Mann in einer dicken Lederjacke und rauchte. Marthaler ging zu ihm und bat ihn um Feuer. Der Mann riss ein Streichholz an, und als er die Flamme an Marthalers Zigarette hielt, streichelte er wie beiläufig über dessen Handrücken.
    «Geht was?», fragte der Mann.
    «Was meinen Sie?», erwiderte Marthaler.
    «Kommst du mit?»
    Marthaler verstand nicht. «Was wollen Sie? Wohin soll ich mitkommen?»
    Der Mann sah ihn an. Er hatte tief liegende Augen mit langen Wimpern und ein hübsches, schmales Gesicht.
    «Bist du noch Jungfrau?», fragte er.
    Mit einem Mal begriff Marthaler. Er erinnerte sich, einmal gehört zu haben, dass die Homosexuellen diesen Parkplatz als Treffpunkt nutzten, um Kontakte anzubahnen und manchmal mit ihren neuen Bekannten auch einfach im struppigen Unterholz zu verschwinden.
    Marthaler war verwirrt. Er wusste nicht, was er auf die Frage des Jungen antworten sollte. Er stammelte: «Nein. Ich weiß nicht. Ich bin nicht   …»
    Als er an seiner Mentholzigarette sog, merkte er, wie seine Hand zitterte. «Entschuldigung», sagte er.
    «Schon okay», sagte der junge Mann. Er lächelte Marthaler an. Und sah zugleich unendlich traurig aus. Dann wandte er sich ab.
    Marthaler ging zurück zu seinem Dienstwagen und ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Er schloss die Augen. Nein, dachte er, so kann man nicht leben. So darf man nicht leben. Aber hätte man ihn gefragt, wen er damit eigentlich meinte, so hätte er wohl keine Antwort gewusst.
    Als er die Augen wieder öffnete, sah er, wie der Junge mit dem Fahrer eines LKW redete. Der Fernfahrer nickte. Marthaler startete den Motor, schaltete das Licht ein und fuhr los. Im Rückspiegel sah er, wie der Junge die Beifahrertür des Lastwagens öffnete und einstieg.
     
    Als Marthaler vor seinem Haus ankam, sah er die alte Hausmeisterin vor der Tür stehen und nach ihrem Schlüssel suchen. Er blieb im Auto sitzen und wartete, bis sie im Haus verschwunden war. Er wollte ihr nicht begegnen. Erst als er sah, wie das Licht in ihrer Wohnung anging, stieg er aus.
    Er hängte seinen Mantel an die Garderobe und betrachtete sich im Spiegel. Er rümpfte die Nase und schaute rasch wieder weg. In der Küche schenkte er sich ein Glas Rotwein ein. Dann ging er ins Wohnzimmer und drehte die Heizung auf. Als er die Vorhänge schließen wollte, sah er die junge Nachbarin im Haus gegenüber am Fenster stehen. Sie stand einfach da, hatte wie er ein Glas Wein in der Hand und schaute in die Dunkelheit. Plötzlich schien sie ihn zu bemerken. Er hob sein Glas und prostete ihr zu. Sie machte dieselbe Bewegung, aber sie lächelte nicht. O Gott, dachte Marthaler, was sind wir doch für arme Häute.
    Er wartete, bis sie sich abgewandt hatte und im Inneren ihrer Wohnung verschwunden war, erst dann zog er die Gardine zu. Im Badezimmer zog er sich aus. Er stopfte seine Kleider in den Wäschekorb, der bereits wieder voll war. Zurück im Wohnzimmer, legte er sich nackt auf den Teppich und begann, ein paar gymnastische Übungen zu machen. Nach den ersten fünf Liegestützen verließ ihn die Kraft. Er drehte sich auf den Rücken und hob beide Beine an. Er schaffte es nicht einmal, bis zwanzig zu zählen, bevor er sie wieder auf den Boden sinken lassen musste. Er verschnaufte einen Moment, dann wiederholte er die Übung. Diesmal zählte er etwas schneller. Dann stellte er sich aufrecht hin, streckte beide Arme aus und malte mit den Händen kleine Kreise in die Luft, bis seine Schultermuskulatur anfing zu krampfen. Schließlich machte er noch einige Kniebeugen. Zum Abschluss versuchte er im Stehen mit den Fingerspitzen den Boden zu berühren. Es gelang ihm nicht. Dann war er froh, dass das Telefon läutete.Als er den Hörer abnahm und sich meldete, atmete er noch immer schwer.
    «Oh, entschuldige, mir scheint, ich störe gerade. Deshalb hattest du es also vorhin so eilig.»
    Marthaler meinte das Grinsen in Konrad Morells rundem Gesicht sehen zu können.
    «Nein», sagte er, «ich bin nur gerade zur Tür hereingekommen.»
    «Wohnst du nicht im Erdgeschoss?»
    «Nein», sagte Marthaler, «tue ich nicht.»
    «Ich dachte nur, ich sage dir gleich Bescheid. Wir haben den Namen der Toten in Stefanie Wolframs Haus herausbekommen. Ein Kollege war vorhin bei der Mitwohnzentrale. Sie ist die Frau eines wohlhabenden

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