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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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Deckenlampe an und schaute sich um. Dann ging er zum Fenster und zog die Rollläden hoch. Es war das erste Mal, dass er Zeit hatte, sich seinen neuen Arbeitsplatz näher anzusehen. Elvira hatte bereits seinen Schreibtisch eingeräumt, die Blumen auf die Fensterbank gestellt und die beiden Bilder aufgehängt, die ihn durch all seine Büros begleitet hatten. Das eine war ein Druck von Adolf Menzels «Reiseplänen», das andere zeigte Edouard Manets «Frühstück im Atelier». Immer, wenn er sie anschaute, hatte er das Gefühl, als würde sich etwas von der ruhigen Konzentration, die aus ihnen sprach, auf ihn übertragen, als könne er Kraft aus ihnen schöpfen. Obwohl er von Tereza viel über die Kunst vergangener Jahrhunderte gelernt hatte, hatte er sich seine naive Betrachtungsweise bewahrt. Und er war froh, dass ihn Tereza darin bestärkt hatte. «Das Wichtigste sind deine Augen», sagte sie immer. «Du musst schauen wie ein Fremder.» Und er verstand, was sie damit meinte.
    Er stellte seine Sporttasche auf den Schreibtischstuhl, dann zog er sich um. Es war Jahre her, dass er seinen Trainingsanzug zum letzten Mal angehabt hatte. Immerhin passte die Hose noch, auch wenn sie über dem Bauch ein wenig spannte. Zum Schluss zog er seine dicke Radlerjacke über und setzte die alte Pudelmütze auf. Er ahnte, wie lächerlich er aussah, aber er hatte beschlossen, dass ihm das egal sein müsse. Als er das Treppenhaus betrat, hörte er aus dem Hof die Stimmen von Kerstin Henschel und Elvira. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet, und er sah die erstaunten Gesichter der beiden Frauen.
    «Nein, bitte», sagte er, «keine Kommentare! Und schautnicht so entsetzt. Ich gehe in den Park, um zu laufen. Ein älterer Herr, der wieder anfängt, ein wenig Sport zu treiben. Man hat davon gehört, dass es so etwas gibt. In spätestens einer Stunde bin ich zurück. Dann halten wir unsere Besprechung ab.» Ohne auf eine Reaktion zu warten, ging er nach draußen. Bevor die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, hörte er die beiden im Treppenhaus kichern.
    Nicht wie ein Sportler, sondern wie ein eiliger Spaziergänger marschierte er die Straße hinauf. Erst als er das eiserne Eingangstor des Günthersburgparks passiert hatte, begann er langsam zu traben. Auf den Wegen lag Schnee und Eis; mehrmals rutschte er weg und geriet ins Straucheln. Der Morgen war klar und kalt, und die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die kahlen Äste der alten Bäume.
    Marthaler mochte diesen Park von allen Frankfurter Grünanlagen am liebsten. Im Sommer, wenn er von Katharinas Grab auf dem Bornheimer Friedhof kam, machte er oft hier Halt, setzte sich auf eine der Bänke vor das kleine Parkcafé, aß ein Stück Kuchen oder trank ein Glas Apfelwein und schaute den Kindern auf dem Spielplatz zu. Die sanften Hügel, die alten Laubbäume, der Brunnen mit den dicken Wasserspeiern, das Boulodrom und die zahllosen Familien, die hier bei schönem Wetter auf den Wiesen lagen und picknickten – all das ließ ihn vergessen, dass er in einer Stadt lebte, die zu den Zentren des internationalen Verbrechens gehörte. Für ein paar kostbare Momente hatte er stattdessen das Gefühl, im Urlaub zu sein, an nichts denken und nichts tun zu müssen, als sein Gesicht in die warme Nachmittagssonne zu halten.
    Als er jetzt den ersten Anstieg hinter sich hatte, merkte er, wie sich all seine Gedanken auf seinen Körper konzentrierten. Obwohl er erst wenige hundert Meter gelaufen war, war er bereits außer Puste. Damit hatte er gerechnet. Er beschloss,noch langsamer zu laufen. Immer wieder wurde er von schnelleren Läufern überholt, andere kamen ihm entgegen und grüßten mit einem Nicken.
    Als er im oberen, fast baumlosen Teil des Parks angekommen war, konnte er in der Ferne den Messeturm sehen. Der Himmel wölbte sich blau über der Stadt, hier und da sah man ein paar helle Wolken, und immer wieder zogen in großer Höhe die Flugzeuge ihre weißen Streifen hinter sich her.
    Nach der ersten Runde machte er eine Pause. Jetzt hätte er gerne gewusst, wie lang die Strecke war, die er zurückgelegt hatte. Er schaute auf die Uhr. Er hatte fast zwölf Minuten gebraucht. Als er sich wieder erholt hatte, lief er von neuem los. Dreimal will ich es noch schaffen, nahm er sich vor. Immer wieder ermahnte er sich, die Geschwindigkeit zu drosseln. Wenn er nicht mehr weiterkonnte, blieb er stehen und machte ein paar Übungen. Um nicht zu oft anzuhalten, suchte er sich Orientierungspunkte, die er bis

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