Die Braut von Rosecliff
hinab. »Ich liebe es, sie in den Armen zu halten. Sie ist so hilf los und so gut, und sie weckt in mir den Wunsch, ebenfalls gut zu sein, ein viel besserer Mensch, als ich bin.«
Auch Rhys war noch ein Kind, rief sie sich ins Ge dächtnis. Ein einsames, vernachlässigtes Kind. Nie mand kümmerte sich um ihn, und auch sie selbst hatte in all den Monaten nie ve r sucht, mit ihm Freundschaft zu schließen. Jetzt lächelte sie ihm freundlich zu. »Es ist ganz natürlich, dass du neugie rig auf sie bist. Sie wird ja fast so etwas wie deine klei ne Schwester sein.«
»Sie ist nicht meine Schwester, und du bist nicht meine Mu t ter.«
»Nein, aber sobald Isolde laufen kann, wird sie dir bestimmt auf Schritt und Tritt folgen. Komm her, Rhys, und sieh dir ihre kleinen Finger und die winzi gen Nägel an.« Sie lächelte ihm wieder ermutigend zu. » Komm! Isolde möchte Bekanntschaft mit dir schließen.«
Rhys gab nach. Er blieb lange in ihrem Zimmer, wusch sich Gesicht und Hände, hielt das schlafende Kind vorsichtig in den Armen, beobachtete, wie es gestillt wurde, und grinste en t zückt, als es ein lautes Bäuerchen machte.
»Schlechte Manieren!«, lachte er.
Josselyn lachte mit ihm. »Sie hat noch ein bisschen Zeit, um gute Umgangsformen zu lernen.«
Nachdem Rhys gegangen war, legte sie sich mit Isolde ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Man vergaß so leicht, dass er erst acht Jahre alt war, weil er sich genauso aggressiv auffüh r te wie sein Vater. Aber es war nicht zu übersehen, dass er seine Mutter wahn sinnig vermisste. Von nun an würde sie sich mehr um ihn kümmern, ihm helfen, so weit das in ihren Kräften stand. Dann würde er vielleicht in den kommen den Jahren zu Isoldes Beschützer werden, und den könnte sie gut gebra u chen.
23
Nach einem sehr kalten Winter sehnten die Menschen den Frühling herbei. Endlich schmolz das Eis, und die Natur erwac h te zu neuem Leben. Alles grünte, alle blühten in der warmen Sonne auf. Doch bedauerli cherweise erhitzten sich gleichzeitig die Gemüter, und zwischen Engländern und Walisern kam es zu ernsthaften Konfrontationen.
Es begann im April, kurz nachdem überall die Scha fe auf die Weiden getrieben wurden. Owain stürmte in die Halle und brüllte seinen Vater an: »Du wolltest nicht auf meine Warnu n gen hören! Deine verdammte Vorsicht führt uns ins Verderben, sage ich dir!« Sein Gesicht war vor Wut und Hass verzerrt.
Madoc, der mit drei Dorfältesten am Tisch saß, runzelte die Stirn. »Was ist passiert?«
Josselyn schöpfte gerade das Fett von einer Knochenbrühe ab. Agatha saß mit einer Näharbeit am Feuer. Beide Frauen zuckten erschrocken zusammen, als sie die lauten Männersti m men hörten. Owain war im Zorn völlig unberechenbar, und auch Madoc geriet leicht in Rage. Ein erbitterter Streit zwischen Vater und Sohn könnte durchaus in Handgreiflichkeiten ausa r ten…
»Ein Schäfer wurde ermordet! Fünfzehn Mutter schafe wu r den gestohlen, ein Bock abgeschlachtet!«
Madoc sprang auf. »Wer hat es gewagt, meine Scha fe zu ste h len?«
»Es sind die Schafe deiner Frau, die gestohlen wur den. Carreg Du ist angegriffen worden! Diese gottver fluchten Engländer wo l len uns jetzt in die Knie zwin gen. Zuerst werden sie die Leute von Carreg Du ver hungern lassen, danach kommen wir an die Reihe!« Sein Blick schweifte verächtlich von seinem Vater zu den drei anderen alten Männern. »Und ihr sitzt taten los herum und begnügt euch mit albernem Gerede!« Er schlug sich an die Brust. »Ich werde mich aber zur Wehr setzen, darauf könnt ihr euch verlassen!«
Alle Augen richteten sich auf Madoc. Wie würde er auf diese Provokation reagieren? Josselyn sah, dass er die Fäuste ballte, aber seine Stimme war bemerkenswert ruhig. »Was sagt Clyde dazu? Bittet er uns um Hilfe?«
Owain zückte plötzlich seinen Dolch. Alle hielten den Atem an, aber er stieß die Klinge nur tief in die Tischplatte. »Clyde wird gar nichts tun, weil er ein Feigling ist! Aber ich werde Vergeltung üben, mit dir oder ohne dich! Ich werde nicht länger warten!«
Josselyn verfolgte die Auseinandersetzung mit wachsender Sorge. Wenn Madoc jetzt nicht handelte, würde Owain ihm bald die Macht entreißen. Noch viel schlimmer war jedoch die Tats a che, dass einer der Schäfer von Carreg Du getötet worden war – offenbar auf Befehl von Randulf Fitz Hugh!
»Wer ist ermordet worden?«, fragte sie. Agatha packte sie ängstlich am Arm, weil es unerhört war, dass eine Frau sich
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