Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
saßen allein am Feuer. »Sie haben dich schon einmal verbrannt?«
    Er schloß fest die Lippen. Fünf Tage. Fünf. Es war dunkel geworden und fühlte sich so an, als würde die Sonne die nächsten Tage nicht zurückkehren, als wäre eine fünf Tage währende Nacht angebrochen.
    »Es geht mir nicht um dich. Du bist ein alter Mann, wem solltest du schaden? Nichts spricht dagegen, daß du deinen Lebensabend in einer kleinen Hütte an der Küste verbringst oder hier in den Midlands, ganz wie du willst. Schafe blöken, Fischotter fangen Forellen im Bach, in der Nacht schmatzen Igel unter dem Haselnußstrauch vor deinem Fenster. Vielleicht kannst du ab und an schwer einschlafen, wenn du zu gut zu Abend gegessen hast, ärgere Schwierigkeiten kennst du nicht, ein leichtes Stechen in den Gelenken, natürlich, das Alter. Aber du hast Bücher, du hast deinen Frieden, du summst Lieder, eine gute Zeit. Die hast du dir doch verdient zum Schluß.«
    »Mich erwartet viel mehr als das.«
    »So? Ich gebe den Knechten ein einziges dieser Eisen frei, und du wirst jaulen wie eine gespießte Sau. Sprichst du davon?«
    Fünf Tage. Er mußte durchhalten. Die Ritter würde der |356| Mut verlassen, wenn er tot war, wer weiß, ob sie nicht unter dem Druck der Kirche zerbrachen, einer nach dem anderen, und die Bewegung erlosch. Er hatte es Wycliffe versprochen. Es war Gottes Werk! »Ich werde kein Stechen in den Gelenken haben.«
    Courtenay lachte. »Nein, wahrscheinlich nicht. Wenn sich verbrannte Haut in Fetzen vom Leib löst, sind die Gelenke nicht mehr wichtig.«
    »Ich werde mit den Löwen tollen und ihnen die Mähne zausen, mit dem Allmächtigen selbst werde ich sprechen und ihn für seine Schöpfung loben. Wenn Christus zurückkehrt, wird er alle verwandeln, die seine Freundschaft suchten auf dieser Erde. Neue Körper erhalten wir, wer weiß, vielleicht mit Flügeln, wie sie die Cherubim tragen. Wir werden wieder Menschen sein, ein Wort, das unter den Engeln mit Ehrfurcht gesprochen wird: Menschen. Nicht diese gekrümmten, von der Sünde zerfressenen Kreaturen, die wir heute sind. Gute Menschen. Fähige, begabte, aufrechte Wesen. Wir werden Gott dienen.«
    »Du nicht, Alter. Du bist Ketzer.« Courtenay spie das Wort aus wie Galle: »Ketzer bist du. Du kämpfst gegen Gottes Kirche, hast du das vergessen?«
    Wenn nur der Student durchkam. Der Student wußte, was auf dem Spiel stand. Vielleicht war es ihm gelungen, sich in Market Harborough ein Pferd zu besorgen? Nicholas stellte ihn sich vor, wie er die Straße entlangpreschte. Zu Pferde brauchte er womöglich nur drei Tage bis Nottingham. So waren es insgesamt vier, vier Tage Folter, die es zu überstehen galt.
    Erwartungsvolles Kribbeln durchzog seinen Körper. Die Schmerzen würden bald beginnen. Es war fast leichter, sie zu ertragen, als sie zu erwarten. Denke nicht daran! sagte er sich. Jede Stunde, die du lebst, ist ein Gewinn für Gottes Sache, weil du den Rittern Mut und Kraft gibst, solange sie daran glauben, daß sie dich retten werden.
    Er riß den Blick los von den Brandeisen und sah Courtenay an. »Ein Priester ist nur so lange Gottes Mund, wie er nach Gottes Willen handelt. Fällt er davon ab, und es mangelt an |357| Reue, so ist sein Handeln ungültig und lästerlich. Die Kirche ist vom richtigen Weg abgekommen, William, selbst die Mönchsorden sind der Gier und der Bequemlichkeit anheimgefallen. Nun muß Gottes Wort die Führung übernehmen. Die Bibel wird uns zurückbringen zum guten Pfad.«
    Der Erzbischof hob die Brauen. Es schien, als schluckte er eine Erwiderung hinunter.
    »William«, wiederholte Nicholas. »William. So hat dich schon lange keiner mehr genannt, was? Es braucht den Mut dessen, der nichts mehr verlieren kann. Endlich sagt dir jemand die Wahrheit ins Gesicht.«
    Der Erzbischof sprang auf und packte Nicholas am Kragen. »Nein, mein Freund«, zischte er ihm in das Ohr, »du irrst.
Ich
werde
dir
die Wahrheit sagen: Die Bibel führt nicht zum guten Pfad, sondern zu Gesetzlosigkeit, Rebellion und einer Verwirrung, aus der sich dieses Land nicht wieder retten kann. Denk nach, alter Mann! Was würde geschehen, wenn jeder Engländer eine dieser Schriften hätte? Wenn er sie selbst lesen und deuten würde? Die Bürger in den Städten, die verarmten Adligen, die Handwerker, die Viehzüchter? Sie würden England auf den Kopf stellen, sie würden es verwüsten! Nicht nur die geistliche Herrschaft wäre am Ende, die du so verabscheust, sondern auch die weltliche.

Weitere Kostenlose Bücher