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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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zum Tor und fällt gemeinsam mit Latimer, wenn wir diese erbärmliche Holzburg stürmen. Dabei hätte er es weit bringen können in meinen Diensten.«

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    Es regnete. Kein Prasseln, kein Spritzen, kein ungestümes Rauschen, nein – ein nasser Hauch, der über Braybrooke hinwegschwebte, ein Wassertuch, das zärtlich Bäume, Häuser, Tiere und Menschen benetzte. Es brachte den Morgen mit sich, ließ ihn aufglimmen über dem Rockingham Forest. Ein Wolf heulte in der Ferne, als nähme er trauernd Abschied von der Nacht. Rotkehlchen und Gelbspötter erwachten. Sie ließen sich durch den Regen nicht einschüchtern: Mit Gesang begrüßten sie den nassen, funkelnden Tag. Im Dorf krähte der erste Hahn, müde noch, gedämpft.
    Catherine hielt sich die Ohren zu, summte.
»Lullay, lullay, sleep softly now, hush, my child …«
Sie biß sich auf die Zunge. Schöpfte bebend Atem.
»The morning star, lullay, lullay, is watching over you, lullay.«
Auf dem Plateau des Herrenturms stand sie, gute dreißig Yard über dem Tal. Sie nahm die Hände von den Ohren und klammerte sich an der hölzernen Zinne fest. »Hawisia!« schrie sie. Die Kehle schmerzte, weil sie so gebrüllt hatte. »Hawisia!« Es gellte über Burg und Dorf und Heerlager hinweg.
    Sie neigte die Stirn an das Holz und preßte sie dagegen. Repton war nicht zurückgekommen. Sie hatte die ganze Nacht gelauscht, gewartet, aber er war nicht gekommen. Nun krähten die Hähne, es wurde hell. Und ihre Tochter war tot. Elias tot. Hawisia tot. »Warum quälst du mich und läßt mich nicht auch sterben, Gott?«
    Jemand trat neben sie. »Es ist meine Schuld.«
    Latimer. Er sollte fortgehen. »Laßt mich, geht!«
    »Ich hätte dich nicht zu Courtenay schicken dürfen.«
    »Bitte, verschwindet. Und schickt die anderen auch weg.«
    »Der Turm muß besetzt bleiben. Er steht höher als die Ecktürme, |361| womöglich sieht man von hier –« Latimer verstummte. »Jesus Christus!«
    Was belästigte er sie? Alle Menschen verdienten es zu sterben, ja, am besten, sie starben alle. Courtenay und Latimer und Nevill und sie, Catherine, und die Waffenknechte, Bogenschützen, Repton, ja, Repton vor allem!
    »Wie die Köpfe einer Hydra«, flüsterte Latimer.
    Ein Gericht, sollte doch Feuer vom Himmel fallen! Schwefelbrocken, brennende, berstende Schwefelbrocken, nicht dieser schreckliche sanfte Regen und das Vogelgesinge, und nicht Latimer, der so tat, als wäre alles mit Worten zu klären.
    »Wie hat er in so kurzer Zeit …?«
    Sie riß den Kopf hoch. »Schweigt endlich und verschwindet! Stürzt Euch meinetwegen vom Turm, oder kriecht zu Eurer Anne ins Bett, oder hängt Euch im Pferdestall auf, es ist mir egal. Meine Tochter ist tot, versteht Ihr nicht?« Mit beiden Händen packte sie den Ritter am Kragen. »Meine Tochter wurde umgebracht, es ist zu spät! Worte nützen jetzt nichts mehr.«
    Latimer sah sie nicht einmal an. Bogenschützen stürzten neben ihm an die Zinnen, deuteten über das Dorf hinweg, und auch der Ritter blickte in diese Richtung.
    »Genau das will er«, sagte Latimer. »Ich möchte nicht hören, daß jemand von Kapitulation spricht!«
    Catherine drehte sich um. Was war dort? Der Wald, die Dächer und die Schafweiden dampften. Aus dem weißen Nebel ragten drei Holzgestelle heraus, Gerüste, wie sie am Rumpf von Saint Mary’s in Nottingham lehnten. Winzige Gestalten kletterten an Leitern in die Höhe, sie reichten Bretter hinauf, klopften mit Hämmern.
    »Belagerungstürme.« Latimer rief: »Weckt den Captain!« Leise, kaum hörbar, sagte er: »Wenn diese Türme fertig sind, Catherine, bricht über uns die Hölle herein. Hast du noch ein Quentchen Kraft in deinem Leib? Dann geh in die Kapelle und bete um ein Wunder.«
    »Was ist das?«
    |362| »Belagerungstürme. Es sind Kriegsmaschinen, denen wir nichts entgegensetzen können.«
    »Die meine ich nicht. Hört Ihr nichts?« Sie ließ den Mund offenstehen, lauschte. Ein Ton hatte ihr Gänsehaut auf den Armen beschert, aber über dem Gebrabbel der Bogenschützen konnte sie ihn nicht mehr ausmachen. »Seid ruhig!« befahl sie. »Still!«
    Immer noch redeten sie. Catherine zischte sie nieder.
    Da hörte sie es. Ein hoher, klagender Laut, ein Weinen. Ihr Atem beschleunigte sich. »Das ist mein Kind.« Es kam aus dem Wald hinter der Burg. Sie schob die Männer auseinander. An der Rückseite des Turms lehnte sie sich zwischen zwei Zinnen über die Brüstung.
    Repton trat aus dem Unterholz, im Arm das schreiende

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