Die Brillenmacherin
Zehntausende wären ohne Hirten, hilflos, verzweifelt. Und glaube mir, es finden sich Wölfe. Rotten von Wölfen, die einen solchen Zustand zu nutzen wissen! Willst du dafür die Verantwortung tragen? Sieh dir an, was in diesen Tagen mit seiner Majestät König Richard geschieht. Sieh dir an, was mit England geschieht. Wir werden dieses Land mit Mühe retten. Deine stinkende Ketzerbibel wird uns nicht daran hindern!« Er stieß ihn zu Boden. »Wo ist sie? Wo hast du sie vergraben, deine Schrift? Wo ist das Teufelswerk verborgen? Rede!«
Es geht los, dachte er. Wappne dich, alter Mann. Der Schweiß brach ihm aus am ganzen Körper. Schon wurden die Knie weich, und die Zunge klebte am Gaumen. Er schüttelte den Kopf.
|358| »Rede, sonst brenne ich dir die Seele aus dem Leib!«
»In deine Hände, Gott, gebe ich meinen Geist.«
Da stand Courtenay auf. Er putzte sich die Erdkrümel vom goldbestickten Hemd. Warum war er plötzlich so ruhig? Warum lächelte er? »Du fürchtest die Brenneisen nicht?« Der Erzbischof fragte es freundlich, zuvorkommend. »Nun, sie sind auch nicht für dich gedacht. Kanntest du zufällig einen Brillenmacher mit dem Namen Elias Rowe? Bedaure, er ist tot. Aber er hat eine Frau hinterlassen und eine kleine Tochter. Da die Frau gerade nicht zur Verfügung steht – sie bringt Thomas Latimer um, mir ist das wichtig – bleibt uns nur das Kind.« Er rief laut: »Schafft Hawisia her!«
Als hätte er außerhalb des Feuerscheins gerade auf diesen Befehl gewartet, erschien ein knochiger Mann, auf dem Arm ein Neugeborenes, das sich schlafend in seine Halsbeuge schmiegte. Die prallen Wangen des Kindes waren leicht gerötet, zarter, blonder Haarflaum bedeckte seinen Kopf. Es sah verletzlich aus und zugleich unberührbar. Augenblicklich war Nicholas klar, daß er sprechen würde, ehe man die Kleine auch nur ein einziges Mal zwickte.
Aber der Drahtige hielt nicht nur das Kind. Er stemmte auch eine Armbrust gegen seinen Oberkörper. Sie war auf den Erzbischof gerichtet.
Courtenay nickte zufrieden. »Ah, Repton. Sei so gut und nimm dir einen der glühenden Haken. Das Kind kannst du unserem ehrenwerten Doktor geben. Ist es nicht zuckersüß, Hereford? Wie es schläft, so vertrauensselig? Schau einmal, es hat bereits Wimpern, winzig kleine.«
»Ihr werdet Hawisia nichts antun.« Der Hagere richtete die Armbrust auf den Erzbischof. »Lange genug habt Ihr sie als Werkzeug mißbraucht. Und mich genauso.«
»Philip, was tust du da? Hat dich der Verstand verlassen?«
»Die Armbrust ist gespannt, und es liegt ein Bolzen auf. An
Eurer Stelle würde ich nicht um Hilfe rufen. Sie käme zu spät, wenn Ihr wißt, was ich meine.«
»Ist das der Dank? Ich hätte dich als Ketzer auf das härteste |359| bestrafen können, aber nein, ich habe dir die Freiheit geschenkt. War ich nicht immer gut zu dir? Was ist geschehen? Ich verstehe das nicht.«
»Ich werde jetzt gehen. Ihr wißt, ein Armbrustbolzen reicht weit, und ich behalte Euch im Blick. Ruft Eure Schergen besser erst, wenn Ihr Euch ganz sicher sein könnt, daß ich Euch nicht mehr höre. Ihr seht mich nicht in der Dunkelheit, aber ich sehe Euch, weil das Feuer Euch beleuchtet. Macht Ihr einen Schritt, schieße ich. Ruft Ihr ein Wort, schieße ich. Und glaubt mir, mich verlangt es förmlich danach.«
Langsam entfernte sich der Mann, rückwärts schreitend, ohne den Erzbischof aus den Augen zu lassen. Einige Waffenknechte, die ihm in den Weg treten wollten, brachte Courtenay mit einem Wink zum Stehen.
»Du wirst das bereuen, Repton. Du machst einen großen Fehler.«
»Der Fehler war, den Bund der Bedeckten Ritter zu verlassen und in Eure Dienste zu treten.«
Als Repton nur noch ein Schemen war, als das Schwarz der Nacht ihn beinahe ganz geschluckt hatte, rief er: »Übrigens, Courtenay, es ist fehlgeschlagen. Sir Thomas Latimer lebt, nicht einen Kratzer hat er abbekommen!«
Der Erzbischof knurrte Unverständliches. Er wartete noch einige Augenblicke, dann warf er sich zu Boden und brüllte: »Ihm nach! Er will zur Burg, schneidet ihm den Weg ab! Tötet beide, ihn und das Kind!« Er zog ein Schweißtuch hervor und tupfte sich die Stirn. Immer noch liegend, wendete er sich Nicholas zu. »Ich verstehe nicht, wie Menschen so beschränkt sein können. Er meint, sich zu retten, aber dabei hat er das Urteil über sich gesprochen. Was, Hereford, denkst du, sind seine Möglichkeiten? Entweder sie schnappen ihn gleich, und er stirbt noch heute, oder er schafft es bis
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