Die Brillenmacherin
nicht den Ring zum Kuß dargeboten, es war, als sei das Gespräch nicht beendet, als würde er jeden Augenblick zurückkehren und ihre Entscheidung einfordern.
Schrecklich, daß sie es wagte, ihn zurückzuweisen, und schrecklich, was er forderte. Hawisia war eingeschlafen. Die Lider waren sanfte Striche, das ganze Gesicht strahlte Frieden aus, Vertrauen in die Mutter, die sie hielt. Nein, sie würde Hawisia nicht allein lassen. Bevor sie dem Mörder nachforschte, sollte die Kleine so alt sein, daß sie sie mitnehmen konnte.
Zwei Wochen bekam Catherine den Erzbischof nicht zu Gesicht. Sie begann, das Gespräch zu vergessen. Die Falten auf Hawisias kleinem Körper glätteten sich. Ihre Haut wurde weich und rosig. Die meiste Zeit schlief sie in der Wiege, die man herbeigebracht hatte, in weiche Tücher gebettet. Wenn Hawisia weinte – es geschah etwa alle vier Stunden, gleich, ob |187| es Tag war oder Nacht –, dann konnte nur Muttermilch sie trösten. Oft schlief sie beim Trinken ein. Catherine gewöhnte es sich an, die Kleine während des Stillens zu streicheln und ihr den Nacken zu massieren, um sie wach zu halten, damit sie sich wirklich satt trank, bevor sie wieder wegdämmerte.
Ob die Spindel der Schleifmaschine über das Glas pfiff, ob im Calefaktorium die Männer lachten – Hawisia schlief ungestört, bis der Hunger sie weckte. Erst nach Tagen bemerkte Catherine, daß die Kleine von Zeit zu Zeit heimlich erwachte. Sie schrie dann nicht, sondern sah in stummer Neugier um sich. Während sie lautlos Froschmünder machte oder träumerisch die Lippen aufeinanderpreßte, sah sie zum hellen Fenster hin oder zur lustig rumpelnden Schleifmaschine. Lange konnte sie den Vorhang beobachten, der sich sanft im Windhauch wiegte.
Manchmal schlich sich Catherine heran, um sich satt zu sehen an ihrem Kind. Klug mußte sie sein, die Kleine, wenn sie so lange in eine Richtung blickte und nachdachte. Ihre Augen entschieden selbst, wohin sie sahen, Hawisia war ein eigenständiger, ein ganzer Mensch.
An einem Nachmittag, ein laues Lüftchen wehte von draußen herein und brachte Frühlingsduft, sah Hawisia ununterbrochen auf einige Lichtfunken am Vorhang. Und Catherine, die sie beobachtete, Catherine, die zuerst geschmunzelt hatte, stand unvermittelt der Mund offen. Es waren kleine Sonnen! Sie blinzelten durch das Geäst der Buche in die Werkstatt herein. Jeder der Flecken war rund wie die Sonne, obwohl die Äste das Licht durch schmale Schlitze beengten. Es mußte ein Prinzip dahinterstecken, eine Regel, der sich das Sonnenlicht beugte.
Eine Ahnung packte sie. Kaum konnte sie den Abend erwarten. Als es endlich still geworden war im Calefaktorium und sie sicher sein konnte, daß sie allein war, entzündete sie zwei Talglichter. Sie ließ sie stehen, schlich sich hinüber. Den Vorhang schloß sie auf das genaueste und trat beiseite, um das Loch nicht zu verdecken. Da waren sie wieder! Die Flammen |188| erschienen auf der Wand, wie sie auf der anderen Seite des Vorhangs brannten, nur daß sie auf dem Kopf standen.
Sie schlich näher an die Wand heran. Schimmerte dort nicht Hawisias Wiege? Leuchtete hier nicht die Schleifbank? Alles hing von der Decke des Calefaktoriums herab, verkehrt herum: die Tische, das Bettlager, die mondhelle Fensteröffnung. Wie die kleinen Sonnen durch das Geäst geschlüpft waren, so schlüpfte das Glimmen durch das Loch im Vorhang und erschien als Bild an der Wand im dunklen Raum.
Es waren keine Dämonen gewesen. Es war das Licht! Das Licht spielte! Es befolgte Regeln, die bisher noch niemandem bekannt waren.
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Sie starrte in die leere Wiege. Lange dauerte es, bis sie begriff, daß Hawisia fort war.
Sie konnte den Blick nicht abwenden. Da lagen die Tücher, da lag die kleine Puppe, die sie für Hawisia aus Stroh, einem Leinenfetzen und einem Stück Hanfseil gebastelt hatte. Sie streckte die Stoffarme aus. Nimm mich! sagte sie, du hast kein Kind mehr, aber ich bin dir geblieben. Laß mich dein Kind sein!
Draußen zwitscherte eine Amsel im Buchengeäst, aber im Herzen Catherines war es still. Man hat mir das Kind gestohlen, dachte sie. Immer wieder dachte sie: Man hat mir das Kind gestohlen.
Es mußte in der Nacht geschehen sein. Warum war sie nicht aufgewacht? Und warum hatte Hawisia nicht geschrien, als die fremden Hände sie packten? Hatte man einen Sack über sie gestülpt, ihr etwa den Mund zugehalten? Ihr Kind! Weinte sie? Lag sie irgendwo in einer finsteren Kammer und
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