Die Brillenmacherin
alles Mitleid verborgen, das eine Mutter einer anderen Mutter geben konnte, der man das Kind genommen hatte. Sie sagten nichts weiter. Catherine fühlte sich besser, wie eine Kranke, die erbrochen hatte und daraufhin endlich ein wenig Frieden fand.
Zum erstenmal seit ihrer Abreise dachte sie nicht an Hawisia, sondern an Courtenay. Was mochte er empfunden haben, als sie seine Bitte zurückgewiesen hatte? Er war so gut zu ihr gewesen. Zeugten die ofengewärmten Wände des Calefaktoriums nicht von seiner Güte? Er hätte ihr genausogut eine kalte, dunkle Kammer bei den Werkstätten geben können, dort hätte sie viel eher hingehört, zwischen Schmiede und Zimmerei. Aber er hatte ihr den besten Platz verschafft, den das Augustinerstift zu bieten hatte.
Noch im November, vor seiner Abreise, hatte er ihr den gefütterten Mantel geschenkt, der sie nun vor dem Regen schützte, außen von grüner Farbe und das Futter aus feiner blauer Wolle. Das Kleid mit der Reihe kunstvoller Schmuckknöpfe stammte von ihm. Nie hatte sie so wertvolle und modische Kleider besessen. Das Werkzeug hatte sie von ihm bekommen, die teure Schleifbank aus London. Warum? Das waren keine Almosen, so behandelte man niemanden aus Mitleid. Liebte er sie? War das die Art zu lieben, die Geistlichen gestattet war?
|195| Es mußte für ihn wie eine Ohrfeige gewesen sein, eine in der Öffentlichkeit verabreichte, schallende Ohrfeige, als sie ablehnte, ihm zu helfen. Nach all dem Guten, das er ihr getan hatte, ohne daß sie eine einzige Gegenleistung dafür erbracht hatte, war es seine erste und einzige Bitte gewesen. Und er hatte ihr Zeit gegeben, darüber nachzudenken! Zwei Wochen hatte er gewartet.
Sie konnte nur hoffen, daß seine Wut sich legte, wenn sie in Southoe Erfolg hatte. Sie würde morgen ihr Bestes geben, und wenn sie den Erzbischof wiedersah, würde sie vor ihm niederknien und ihn um Vergebung bitten.
Der Bauer begann zu schnarchen. Das Knarren aus seiner Kehle hallte von den rußigen Wänden der Hütte wider, aber es schien die Kinder nicht zu wecken. Sie stöhnten nicht, sie wälzten sich nicht schlaflos im Stroh. Zu ihrer Welt gehörte das Schnarchen des Vaters dazu wie die Armut. Womöglich gab es ihnen gar das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Teil einer Familie zu sein. Ja, danach sehnte auch sie sich. Ohne Zweifel führte die Bäuerin ein hartes Leben, und doch: Sie mußte nie zweifeln, ob sie das Richtige tat. Sie erzog die Kinder, sie bekämpfte das Unkraut im Garten, sie fütterte die Hühner und buk Brot. In diesen Aufgaben war sie zu Hause.
Wie undankbar ich bin! schalt sich Catherine. Ich habe ein hervorragendes Handwerk erlernt und stehe unter dem Schutz des mächtigsten Kirchenfürsten Englands. Ich habe Nahrung und Kleider und Werkzeug und alles, was ich benötige, und darüber hinaus kann ich Geld verdienen, ohne es zum Lebensunterhalt ausgeben zu müssen. Und ich beneide eine Bäuerin!
»Ich werde nicht lügen«, flüsterte sie.
Sie verzog das Gesicht. Was hatte sie da gesagt? Woher war dieser Gedanke gekommen? Sie hatte gar nicht über den Besuch bei den Lovetofts nachgedacht, und doch war eine Entscheidung aus ihrem Bewußtsein heraufgetaucht wie ein Ungeheuer aus dem Meer. Nicht lügen? Unsinn. Wie sollte sie vor Sir John Cheyne warnen, ohne vorzugeben, ihn zu kennen? |196| Und wie sollte sie Courtenays Namen verschweigen, wenn man sie fragte, was sie nach Southoe gebracht hatte? Es war genauso eine Lüge, wenn man schwieg oder eine Frage so beantwortete, daß es den anderen auf eine falsche Fährte brachte.
Du sollst nicht lügen, hieß es in den Geboten Gottes. Ha! Versuchte sie, die Bibel auszulegen? Sie, eine einfache Frau? Geweihte Geistliche zerbrachen sich den Kopf darüber und lehrten das Volk mit Mühe. Da sollte sie etwas besser wissen als Erzbischof Courtenay? Er hatte erklärt, daß es gestattet sei, sich für einen guten Zweck einer Lüge zu bedienen, so, wie es für einen guten Zweck in Ordnung sei zu töten, obwohl die Zehn Gebote das Töten verboten. Also würde sie doch lügen. Sie würde das Unwohlsein überwinden, die Lüge würde glatt von ihrer Zunge gehen, denn sie log ja für Gott. Gott zeigte Courtenay seinen Willen, und Courtenay sagte ihn ihr weiter, und ihre Aufgabe war es nicht, daran herumzudeuten.
Sir John Cheyne sei ein Teufelsanbeter, sie wisse es genau, das würde sie morgen den Lovetofts sagen.
»Und Ihr seid sicher, daß ich Euch nicht bis Oxford bringen soll? Ihr müßt
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