Die Brillenmacherin
schrie nach ihr?
Sie wirbelte herum, sprang durch das Calefaktorium und betastete die Tür. Der Riegel. Sie mußte vergessen haben, ihn vorzuschieben.
Catherine trat in den Kreuzgang hinaus und schrie: »Gebt mir mein Kind zurück!« An der Kleiderkammer lief sie vorüber, unter der Treppe zum Kathedralenquerschiff hindurch, hin zum Haus des Abts. »Hawisia!« Sie stand, keuchte, lauschte. Zu jedem Haus mußte sie, zu jedem Haus, und lauschen. Die Brauerei. »Hawisia?« Der Kapitelsaal. »Hawisia?« Die Scheunen. Die Walkmühlen. Die Zimmerei. Die Abortanlagen am Fluß.
Ihre Tochter würde schreien, sobald sie ihre Stimme hörte. Es genügte, wenn Catherine es gedämpft aus einem der Häuser |190| vernahm. Sie würde sie finden. Bei der Bäckerei rief sie nach ihr, bei den Werkstätten, bei der Schmiede.
Sie traf auf Philip Repton. Er breitete die Arme aus, um ihr den Weg zu verstellen. Dabei hätte es dessen nicht bedurft. Sein Lächeln genügte. Sie konnte nicht mehr schreien, nicht mehr laufen. Philip Reptons Lächeln entzog ihr alle Kraft.
»Wo ist meine Tochter?«
»Deine Tochter ist fort?«
»Gebt sie mir zurück!«
»Je schneller du erledigst, worum dich der Erzbischof gebeten hat, desto eher siehst du sie wieder.«
Das war es also. Catherine schluckte. Sie haßte das Katzengesicht, wie sie nie etwas gehaßt hatte. Es drängte sie, es anzuspucken, es zu zerkratzen, aber sie brauchte Hawisia, sie mußte sich zusammenreißen und verhandeln. »Ich will es tun. Laßt mich nur einmal noch mein Kind sehen.«
»Das ist nicht möglich.«
Es war nicht möglich! Nicht möglich, sie zu sehen. Warum nicht? Lebte sie nicht mehr? »Es ist nicht möglich?« wisperte sie.
»Nein.«
»Aber sie lebt?«
»Natürlich.«
»Ich will ja tun, was Ihr sagt. Kann ich sie nicht ein einziges Mal sehen? Ich muß mein Kind haben, nur für einen Augenblick!«
Repton schüttelte den Kopf.
»Sie braucht meine Milch. Sie wird sterben, wenn ich fortgehe.«
»Das laß unsere Sorge sein.«
»Hat sie eine Amme? Eine Mutter, die sie stillen kann?«
»Du siehst sie wieder, wenn du zurückkommst.«
»Ihr seid Unmenschen, Ungeheuer! Alan hat mich vor Courtenay gewarnt. Hätte ich nur darauf gehört!«
»Du wirst verstehen, es ist zu deinem Besten.«
»Gebt mir Hawisia zurück.«
|191| »So kommen wir nicht weiter. Aber wenn du das Wiedersehen mit deiner Tochter noch ein wenig hinauszögern willst …«
»Wo liegt Southoe?« fragte sie kühl.
»Östlich von Northampton.«
»Krümmt ihr ein Haar, und Ihr werdet Euch wünschen, nie geboren worden zu sein.«
Catherine ging langsam durch das Dorf. Sie wartete auf einen Schrei, auf ein leises Wimmern. Bis zum letzten Haus hoffte sie. Es blökten die Schafe, die Schweine grunzten, und eine Brunnenwinde quietschte. Kein Zeichen von Hawisia. Bald umfing sie das Rauschen und Knistern des Waldes.
Bis Melton Mowbray weinte sie. Es war längst dunkel, als sie die Stadt erreichte. Ihre Brust schmerzte, und ihre Fußsohlen brannten. Ein mürrischer Büttel öffnete das Tor. Er brummte: »Eine Ausnahme.« Ihre Frage nach einem Gasthaus beantwortete er mit einer undeutlichen Armbewegung. Sie fand nichts als eine Schankstube und war zu müde, um weiterzusuchen, so wie sie zu müde war, die Werkzeuge und das Beutelchen mit den Münzen sicher an ihrem Körper zu verwahren. Sie warf das Bündel gegen die Wand, schob sich ein wenig Stroh unter das Ohr und schloß die Augen. Männer grölten hinter ihr, Frauen lachten, Würfel polterten über den Tisch. Catherine hatte ihr Herz in das Kind übertragen und lief ohne Hawisia als leere Hülle umher, ja, als leere Hülle lag sie in diesem Haus für Trinker und Verachtete, als leere Hülle am Boden zusammengerollt. Schuhe schrammten über den Boden. Die Würfel klickten, und die Trinker brüllten Flüche und schlugen auf den Tisch.
Am nächsten Morgen war es ihr, als habe sie nicht geschlafen, sondern statt dessen die ganze Nacht in einem Steinbruch gearbeitet. Die Schankstube lag still da: verlassene Tische, verlassene Bänke, Pfützen. Draußen spülte sich Catherine kaltes Brunnenwasser in das Gesicht, aber es reinigte die Haut nicht, ebensowenig, wie die kühle Morgenluft sie zu wecken vermochte. Ein schlechter Traum war dies alles, ein Traum, der nicht enden wollte.
|192| Sie überquerte den Marktplatz: Butter, Holz, Kühe, Schafe, Getreide. Kaum nahm sie den Lärm der Handelnden wahr. Aber sie sah den weiß bemalten Schwan wieder, der auf
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