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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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kaufen können. Sie brauchte Feilen, Schleifschalen, Zangen. Die Schleifmaschine ließ sie schweren Herzens zurück.
    Courtenay sollte erst erfahren, daß sie ihn verließ, wenn sie bereits einige Stunden verschwunden war. Sie würde die großen Straßen meiden und nur in kleinen Ortschaften übernachten. Er hatte ja, was er wollte, er kannte den Aufenthaltsort dieses Doktor Hereford. Vielleicht würde er sich ärgern über ihre Flucht. Sie aufwendig verfolgen würde er nicht.
    Die Stimme des Mörders. Catherine konnte sie nicht vergessen. Die Stimme, die ihr einst zugeraunt hatte: »Ich werde dich züchtigen.« Der Mörder war bei Nevill gewesen. Also hatte der Ritter sie belogen. Er hatte sich unwissend gestellt, um sie loszuwerden, und empfing gleich darauf den Übeltäter. Offenbar war er sich sicher, daß sie den Mörder nicht erkannte. Aber sie kannte ihn! Ihn zu jagen! Ihn zur Strecke zu bringen!
    Du fliehst, sagte sie sich. Vergiß die Vergangenheit. Heute bist du Hawisias Mutter, du bist Brillenmacherin, das ist genug. Der Haß soll keine Nahrung mehr erhalten.
    Es war wohl am besten, wenn sie das Bündel mit den Werkzeugen aus dem Fenster fallen ließ. Im Calefaktorium hielten sich Kanoniker auf, sie würden Verdacht schöpfen, wenn sie |253| mit Hawisia und mehreren Bündeln Gepäck an ihnen vorbeiging.
    Catherine wickelte einen Lederlappen um die Werkzeuge. Sie trat ans Fenster. Da hörte sie ein Rauschen von Stoff, das Geräusch des sich teilenden Vorhangs. Rasch zog sie das Bündel zurück und sah sich um. Eine schmutzig gekleidete Frau war eingetreten. Sie trug Hawisia auf dem Arm. Mit ernstem Gesicht überreichte sie ihr die Tochter. Catherine lächelte.
    Hawisias Haut hatte die Farbe von Asche angenommen. Der Glanz war aus den Augen gewichen. Reglos lag sie da und weinte, kaum hörbar, tränenlos, als tat sie es nur für sich, um sich zu beweisen, daß sie noch lebte. Catherine roch ihren Atem: eitrig, streng. »Wie lange ist sie schon so?« fuhr sie die Amme an.
    »Gestern wollte sie meine Brust nicht mehr, ich weiß nicht, was geschehen ist. Zuvor ging es gut.«
    »Laß mich allein!«
    Unter Entschuldigungen zog sich die Amme hinter den Vorhang der Werkstatt zurück. Catherine entblößte ihre Brust und legte den Mund der Kleinen darauf. Müde saugte Hawisia einige Male, dann erschlafften ihre Lippen. Das Kind glühte.
    »Ich lasse dich nie wieder aus den Augen«, flüsterte Catherine. »Bitte verzeih mir! Ich bin wieder da, es wird alles gut, nur gib nicht auf, mein Kleines.« Vorsichtig schmiegte sie Hawisia an sich und streichelte sie, auf und ab schreitend. »Hörst du das? Das ist der Herzschlag deiner Mutter. Ich bin es. In meinem Bauch hast du gewohnt für neun Monate. Ich werde für dich sorgen, richtig für dich sorgen, nicht so, wie es die Amme getan hat. Verzeih mir, Hawisia!«
    Als wäre er aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich Courtenay vor ihr.
    Catherine erschrak fürchterlich.
    Sie faßte sich und schleuderte ihm entgegen: »Hawisia ist krank!« Die entblößte Brust kümmerte sie nicht.
    Der Erzbischof sah sich in der Werkstatt um. »Du packst?«
    |254| »Ich habe getan, was Ihr wolltet, zweimal. Nun muß ich mich um meine Tochter kümmern. Sie ist krank!«
    »Wo willst du hin?«
    »Weiß ich noch nicht. Fort von hier jedenfalls.«
    »Glaubst du, deine kranke Tochter übersteht eine Reise?« Tatsächlich, der Zustand, in dem Hawisia sich befand, legte absolute Ruhe nahe. Auf der Straße würde sie Regen und Wind ausgesetzt sein, sie würde nicht zu ihren gewohnten Zeiten Schlaf finden, und woher trockene Windeln nehmen?
    Hier jedoch würde Catherine nicht eine Nacht ruhig schlafen. Irgendwann nahm man ihr Hawisia erneut, ganz sicher. Der Erzbischof mochte recht gehabt haben mit seinem Urteil über Nevill, dennoch, er schämte sich nicht, sie zu erpressen. Als Amme heuerte man eine unverantwortliche, schmutzige Person an. Nein, mochte die Straße auch gefährlich sein für Hawisia, es gab keinen anderen Ausweg als die Flucht. »Ei nige Tage an frischer Luft werden ihr guttun.«
    Der weiche, blaßrote Mund des Erzbischofs verzog sich. Schweigend zog er einen kleinen Ring vom Finger, dann einen großen, schweren. Er setzte die Ringe auf dem leeren Werktisch ab, hob sie in die Höhe, setzte sie wieder ab, ließ sie aneinanderklingeln wie Münzen. »Du sagst mir, wo sich der Teufelsanbeter Hereford aufhält. Dann verläßt du umgehend das Augustinerstift, ohne zu erklären, wohin

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