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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Mann, der gerade aus der Kirche kommt, dachte ich. Ein Mann, der den Sabbat ehrt und seine Religion ernst nimmt.
    «Ja?», fragte er. «Was kann ich für Sie tun?»
    «Ich bin Rorys Onkel», sagte ich. «Nathan Glass. Ich bin zufällig hier in der Gegend und dachte mir, ich könnte sie mal besuchen.»
    «Ach? Sie erwartet Sie?»
    «Nicht dass ich wüsste. Soweit ich weiß, haben Sie ja kein Telefon.»
    «Das stimmt. Von so etwas halten wir nichts. Das führt nur zu Geschwätz und müßigem Gerede. Wir ziehen es vor, unsere Worte für wichtigere Dinge aufzusparen.»
    «Höchst interessant   … Mister   … Mister   …»
    «Minor. David Minor. Ich bin Auroras Mann.»
    «Das habe ich mir gedacht. Aber ich wollte nicht voreilig sein.»
    «Treten Sie ein, Mr.   Glass. Aurora befindet sich heute leider nicht wohl. Sie hat sich oben zum Schlafen hingelegt, aber ich heiße Sie herzlich willkommen. Wir sind hier alle sehr aufgeschlossen. Auch wenn andere unseren Glaubennicht teilen, geben wir uns alle Mühe, sie mit Würde und Respekt zu behandeln. Das ist eins von Gottes heiligen Geboten.»
    Statt einer Antwort lächelte ich nur. Sein Auftreten mochte einigermaßen freundlich sein, aber schon redete er wie ein Fanatiker, und eine Debatte über theologische Themen war das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte. Lass ihm seinen Gott und seine Kirche, sagte ich mir. Ich hatte kein anderes Anliegen, als herauszufinden, ob Rory in Gefahr war oder nicht – und, falls ja, sie so schnell wie möglich aus diesem Haus zu holen.
    In Anbetracht des äußeren Zustands (der Anstrich blätterte ab, die Fensterläden waren morsch, aus Rissen in der Betontreppe wuchs Gras) war ich darauf gefasst, im Inneren des Hauses eine armselige Sammlung kaputter, zusammengewürfelter Möbel anzutreffen; tatsächlich erwies es sich aber als durchaus vorzeigbar. Rory hatte Junes Talent geerbt, aus wenig viel zu machen, und das Wohnzimmer zu einem schlichten, aber attraktiven Raum gestaltet, geschmückt mit Topfpflanzen, selbst genähten Ginganvorhängen und einem großen Poster an der Wand gegenüber, das für eine Giacometti-Ausstellung warb. Minor bedeutete mir, auf der Couch Platz zu nehmen, und setzte sich in einen Sessel auf der anderen Seite des Couchtischs. Dann schwiegen wir erst einmal. Ich war versucht, sofort zur Sache zu kommen – zu verlangen, dass ich nach oben gehen und mit Aurora sprechen durfte, ihn mit Fragen über Lucy in die Mangel zu nehmen, ihm eine Erklärung abzunötigen, warum seine Frau Angst hatte, ihren eigenen Bruder anzurufen   –, erkannte aber, dass diese Vorgehensweise wahrscheinlich ins Auge gehen würde, und begann die Unterhaltung daher so taktvoll wie möglich.
    «North Carolina», fing ich an. «Als wir das letzte Mal vonIhnen gehört haben, haben Sie bei Ihrer Mutter in Philadelphia gelebt. Was hat Sie hierher geführt?»
    «Verschiedenes», sagte Minor. «Meine Schwester und ihr Mann leben hier, und sie haben mir einen guten Job besorgt. Aus diesem Job hat sich ein noch besserer Job ergeben, und jetzt bin ich stellvertretender Geschäftsführer im True Value Hardware Store in der Camelback Mall. Für Sie mag das nichts Besonderes sein, aber es ist ehrliche Arbeit, und ich verdiene nicht schlecht. Wenn ich daran denke, wie ich vor sieben oder acht Jahren war, kommt es mir wie ein Wunder vor, dass ich es so weit gebracht habe. Ich war ein Sünder, Mr.   Glass. Ich war drogensüchtig, ich war ein Wüstling, ein Lügner und Kleinkrimineller, und ich habe alle verraten, die mich liebten. Dann habe ich Frieden in Gott gefunden, und mein Leben war gerettet. Ich weiß, einem Juden wie Ihnen muss es schwer fallen, uns zu verstehen, aber wir sind nicht irgendeine Sekte bibelschwingender Christen, die Hölle und Verdammnis predigen. Wir glauben nicht an die Apokalypse und das Jüngste Gericht; wir glauben nicht an Entrückung oder das Ende der Welt. Wir bereiten uns auf das Leben im Himmel vor, indem wir auf Erden ein gutes Leben führen.»
    «Wen meinen Sie, wenn Sie von
wir
reden?»
    «Unsere Kirche. Den Tempel vom Heiligen Wort. Wir sind nur eine kleine Gruppe. Unsere Gemeinde hat sechzig Mitglieder, aber Reverend Bob ist ein glänzender Führer und hat uns vieles gelehrt. ‹Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.›»
    «Das Johannesevangelium. Kapitel eins, Vers eins.»
    «Die Bibel ist Ihnen also vertraut.»
    «Einigermaßen. Für einen Juden, der nicht an Gott glaubt, besser

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