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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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als den meisten.»
    «Wollen Sie mir sagen, Sie sind Atheist?»
    «Alle Juden sind Atheisten. Außer denen, die es nicht sind, natürlich. Aber mit denen habe ich nicht viel zu tun.»
    «Sie machen sich doch nicht etwa über mich lustig, Mr.   Glass?»
    «Nein, Mr.   Minor, ich mache mich nicht über Sie lustig. Das würde mir nicht im Traum einfallen.»
    «Denn wenn Sie sich über mich lustig machen, muss ich Sie bitten, mein Haus zu verlassen.»
    «Reverend Bob interessiert mich. Ich möchte wissen, was seine Kirche von den anderen unterscheidet.»
    «Er versteht, was
opfern
bedeutet. Wenn Gott das Wort ist, bedeuten die Worte der Menschen nichts. Sie besagen nicht mehr als das Grunzen der Tiere oder die Schreie der Vögel. Damit wir Gott einatmen und Sein Wort aufnehmen können, lehrt der Reverend, dass wir uns der nichtigen Menschenrede zu enthalten haben. Das ist das Opfer. An jeweils einem von sieben Tagen hat jedes Mitglied der Gemeinde vierundzwanzig Stunden lang absolutes Stillschweigen zu bewahren.»
    «Das stelle ich mir sehr schwierig vor.»
    «Das ist es anfangs auch. Dann aber beginnt man sich darauf einzustellen, und die Schweigetage werden zu den schönsten und erfüllendsten Momenten der Woche. Da spürt man wahrhaftig die Anwesenheit Gottes in sich.»
    «Und was passiert, wenn jemand das Schweigen bricht?»
    «Dann muss er am nächsten Tag noch einmal von vorn anfangen.»
    «Und wenn Ihr Kind krank ist und Sie müssen an Ihrem Schweigetag den Arzt rufen, was geschieht dann?»
    «Ehepaare schweigen nie am selben Tag. Dann lässt man den Ehepartner den Anruf machen.»
    «Aber wie kann man anrufen, wenn man kein Telefon hat?»
    «Man geht zur nächsten Telefonzelle.»
    «Und was ist mit Kindern? Müssen die auch Schweigetage einhalten?»
    «Nein, Kinder sind davon befreit. Sie werden erst mit vierzehn in den Schoß der Gemeinde aufgenommen.»
    «Ihr Reverend Bob ist schwer auf Draht, wie?»
    «Er ist ein großer Denker, und seine Lehren machen uns das Leben besser und leichter. Wir sind eine glückliche Schar, Mr.   Glass. Tag für Tag danke ich Jesus auf den Knien, dass er uns nach North Carolina geschickt hat. Wären wir nicht hierher gekommen, hätten wir nie erfahren, welche Freude es bringt, dem Tempel vom Heiligen Wort anzugehören.»
    Als Minor so sprach, hatte ich den Eindruck, dass er ohne weiteres noch sechs oder zehn Stunden lang die Tugenden des Reverend Bob hätte preisen können, nur fand ich es merkwürdig, wie sorgfältig er jede Erwähnung der Namen seiner Frau und seiner Adoptivtochter zu vermeiden schien. Ich war nicht den weiten Weg aus New York gekommen, um mir leeres Geschwätz über True Value Hardware und irgendwelche hirnrissigen Tempel Gottes anzuhören. Nachdem wir nun eine Weile zusammengesessen hatten und er in meiner Gesellschaft nicht mehr ganz so nervös war, hielt ich den Augenblick für gekommen, das Thema zu wechseln.
    «Ich bin überrascht, dass Sie mich noch nicht nach Lucy gefragt haben», sagte ich.
    «Lucy?», wiederholte er und schien aufrichtig bestürzt. «Sie kennen sie?»
    «Natürlich kenne ich sie. Sie lebt bei Auroras Bruder und seiner neuen Frau. Ich sehe sie fast täglich.»
    «Ich dachte, Sie hätten keinen Kontakt mit der Familie. Aurora hat erzählt, Sie leben irgendwo in einer Vorstadt,und Sie hätten sich seit Jahren bei keinem mehr blicken lassen.»
    «Das hat sich vor ungefähr sechs Monaten geändert. Jetzt habe ich wieder Kontakt. Und zwar ständig.»
    Minor schenkte mir ein kurzes wehmütiges Lächeln. «Wie geht’s denn der Kleinen?»
    «Als ob Sie das interessiert.»
    «Natürlich interessiert mich das.»
    «Warum haben Sie sie dann fortgeschickt?»
    «Das war nicht meine Entscheidung. Aurora wollte sie nicht mehr, und ich habe sie nicht davon abbringen können.»
    «Das glaube ich Ihnen nicht.»
    «Sie kennen Aurora nicht, Mr.   Glass. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Ich tue, was ich kann, um ihr zu helfen und sie zu unterstützen, aber sie zeigt keinerlei Dankbarkeit. Ich habe sie aus den Tiefen der Hölle gezogen und ihr das Leben gerettet, aber sie will immer noch nicht einlenken. Sie will immer noch nicht glauben.»
    «Gibt es irgendein Gesetz, das sagt, dass sie glauben muss, was Sie glauben?»
    «Sie ist meine Frau. Eine Frau soll ihrem Mann folgen. Sie hat die Pflicht, ihrem Mann in allen Dingen zu folgen.»
    Jetzt war kaum noch abzusehen, worauf das hinauslief. Unser Gespräch hatte sich in verschiedene Richtungen

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