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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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okay?»
    Danach änderte sich für mich alles, die ganze Welt. In wenigen Tagen sollte die katastrophale Wahl 2000 stattfinden, aber während Tom und Honey die nächsten fünf Wochen entsetzt vor dem Fernseher saßen und mitansehen mussten, wie die Republikanische Partei ihre Gangster losschickte, um die Auszählung in Florida anzufechten, und dann den Obersten Gerichtshof dazu brachte, zu ihren Gunsten einen juristischen Coup durchzuziehen – währendalso diese Verbrechen gegen das amerikanische Volk begangen wurden und mein Neffe und seine Frau an Demonstrationen teilnahmen, Briefe an ihren Kongressabgeordneten schickten und zahllose Proteste und Petitionen unterschrieben, hatte ich nur eins im Kopf: Rory aufzuspüren und nach New York zu holen.
    Hawthorn Street 87.   Oder auch Hawthorne Street, benannt nach einem Menschen statt nach einem Baum – womöglich gar nach Nathaniel Hawthorne, dem schon lange toten Schriftsteller, der unwissentlich den Tod unseres traurigen, glücklosen Freundes herbeigeführt hatte. Eine schmerzliche Duplizität, die wenig oder nichts zu bedeuten hatte, aber trotzdem unheimlich war, denn es schien, als stellte das gleiche, in zwei verschiedenen Zusammenhängen auftauchende Wort eine unterirdische Verbindung zwischen Harry und Aurora her: der eine für immer gegangen, die andere nur außer Reichweite, beide aber Bewohner des Unsichtbaren. Abgesehen von diesem einen Hinweis blieb alles andere reine Spekulation, aber da Lucy mit südlichem Akzent sprach und da sie ihre Mutter in das nicht existierende Land Carolina Carolina versetzt hatte, beschloss ich, meine Suche in den beiden realen Carolinas zu beginnen, North und South. Das Dumme war bloß, dass Aurora und ihr Mann kein Telefon besaßen. Hätten sie in irgendeinem Telefonbuch gestanden, wäre es möglich gewesen, die Auskunft in sämtlichen Städten und Ortschaften beider Bundesstaaten anzurufen und nach der Nummer von David Minor in der Hawthorn(e) Street 87 zu fragen. Ein mühsames Unterfangen, aber immerhin eins, das zu einem positiven Ergebnis führen musste. Da mir diese Möglichkeit nicht zur Verfügung stand, blieb mir nichts anderes übrig, als den umgekehrten Weg zu gehen. An einem Sonntag stieg ich in den Zug nach Princeton Junction und verbrachtezusammen mit meiner schwangeren Tochter und ihrem kleinlauten, ernüchterten Mann zwölf Stunden vor einem Computermonitor. Terrence mochte es an Charme mangeln, aber in technischen Dingen war er ein Ass, und als ich am nächsten Morgen nach Hause fuhr, hatte ich eine Liste in der Tasche, in der jede Hawthorn und Hawthorne Street in beiden Carolinas verzeichnet war. Zu meiner Bestürzung gab es mehrere hundert davon. Zu viele. Um jede Nummer 87 auf der Liste zu besuchen, hätte ich sechs Monate unterwegs sein müssen.
    In dieser Situation wandte ich mich an Henry Peoples, meinen alten Kollegen von Mid-Atlantic Accident & Life. Er war einer der Top-Ermittler des Unternehmens gewesen, und wir hatten im Lauf der Jahre eine Reihe von Fällen gemeinsam bearbeitet – der spektakulärste davon die so genannte Affäre Dubinsky, durch deren Aufklärung Henry zur Legende geworden war. Arthur Dubinsky hatte im Alter von einundfünfzig Jahren seinen Tod vorgetäuscht, indem er einen New Yorker Obdachlosen getötet, die Leiche in sein eigenes Auto gesetzt und dieses in den Rockies brennend in eine Felsschlucht gestürzt hatte. Maureen, seine dritte Ehefrau, achtundzwanzig Jahre alt, kassierte seine Lebensversicherung in Höhe von 1,6   Millionen Dollar, verkaufte einen Monat später ihre Eigentumswohnung in Manhattan und machte sich aus dem Staub. Henry, dem Dubinsky von Anfang an verdächtig vorgekommen war, hatte Maureen im Auge behalten; als sie sich plötzlich aus New York absetzte, unterrichtete er seinen Abteilungsleiter davon, und der gab ihm die Erlaubnis, sich ihr an die Fersen zu heften. Nach neun Monaten zäher Kleinarbeit hatte er Mrs.   Dubinsky aufgespürt – sie lebte mit ihrem quicklebendigen Gatten auf der Insel Saint Lucia. Wir konnten noch fünfundachtzig Prozent der ausgezahlten Versicherung wiedererlangen;Arthur Dubinsky kam wegen Mordes ins Gefängnis; und Henry und ich wurden mit hohen Prämien belohnt.
    Ich hatte über zwanzig Jahre lang mit Peoples gearbeitet, will aber gar nicht erst so tun, als sei er mir jemals sympathisch gewesen. Er war ein sonderbarer, unangenehmer Mensch, der streng vegetarisch lebte und so viel Charme besaß wie eine erloschene

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