Die Brooklyn-Revue
einzige Bruder meiner Mutter. Ich habe ihn seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen.»
«Das weiß ich», sagte Minor. «Aber er soll in ein paar Tagen wiederkommen – wenn es dir besser geht.»
«Du bist ja so ungeheuer klug, David», sagte Rory. «Du weißt immer, was das Beste ist. Wie dumm von mir, dass ich ohne deine Erlaubnis nach unten gekommen bin.»
«Geh nicht, wenn du nicht willst», sagte ich zu ihr. «Du stirbst schon nicht gleich, wenn du ein paar Minuten hier bleibst.»
«O doch, das werde ich», sagte sie und gab sich keine Mühe, ihren Sarkasmus zu verbergen. «David meint, wenn ich nicht alles tue, was er sagt, werde ich sterben. Stimmt doch, David, oder?»
«Beruhige dich, Aurora», sagte ihr Mann. «Sprich nicht so vor deinem Onkel.»
«Warum denn nicht?», gab sie zurück. «Scheiße nochmal, warum denn nicht?»
«Hüte deine Zunge», fuhr Minor sie an. «So reden wir nicht in diesem Haus.»
«Ach, tun wir das nicht, ja?», sagte sie. «Dann wird es wohl Zeit, dass ich dieses gottverdammte Haus verlasse. Dann wird es wohl Zeit, dass das Ungeziefer sich verzieht, damit du allein sein kannst mit deinen reinen Gedankenund deiner reinen Zunge und deinem beschissenen schweigenden Gott. Ich hab die Schnauze voll, du Heiliger. Das ist die Stunde der Wahrheit. Das ist mein Glückstag, endlich. Onkel Nat wird mich hier rausholen. Stimmt’s, Onkel Nat? Wir fahren in deinem Auto weg von hier, und ehe morgen die Sonne aufgeht, bin ich wieder bei meiner Lucy.»
«Du brauchst es nur zu sagen», antwortete ich, «und ich bringe dich, wohin du willst.»
«Ich sage es, Onkel Nat. Nimm mich mit.»
Minor war so verblüfft, er wirkte wie gelähmt. Ich machte mich darauf gefasst, dass er sich auf sie stürzen und alles tun würde, um uns aufzuhalten, aber die Konfrontation war so plötzlich ausgebrochen, mit solcher Urgewalt, dass er kein einziges Wort herausbekam. Ich legte ihr einen Arm um die Schulter, und bevor ihr Mann begriff, wie ihm geschah, saßen wir bereits in meinem Auto, setzten aus der Einfahrt zurück und ließen die Hawthorne Street für immer hinter uns.
FLUG NACH NORDEN
A urora hätte in diesem Zustand nicht reisen dürfen, aber als ich vorschlug, irgendwo ins Hotel zu gehen und zu warten, bis ihr Fieber sich gesenkt habe, schüttelte sie den Kopf und bestand darauf, das nächste Flugzeug nach New York zu nehmen.
«David ist clever», sagte sie. «Er findet uns garantiert, auch wenn wir nur ein paar Stunden hier in der Gegend bleiben. Pump mich einfach mit Advil oder so was voll, dann wird’s schon gehen.»
Also kaufte ich ihr die Tabletten, wickelte sie in meinen Mantel, drehte die Heizung im Wagen auf und fuhr geradewegs zum Flughafen. Ich war am Morgen in Greensboro gelandet, aber da Minor uns dort mit Sicherheit suchen würde, hielt Rory es für das Beste, von Raleig h-Dur ham aus abzufliegen. Das war ein Weg von hundert Meilen, und sie schlief die ganzen zwei Stunden, die wir dafür brauchten. Nach vier Advil und dem ausgiebigen Nickerchen ging es ihr schon besser. Immer noch blass, immer noch ziemlich erschöpft, aber das Fieber war offenbar gesunken, und nach einigen weiteren Tabletten und zwei Gläsern Orangensaft am Flughafen hatte sie immerhin Kraft genug zum Reden – und nichts anderes taten wir in den nächsten Stunden: Wir fingen an, als wir in der Abflughalle Platz genommen hatten, und hörten erst wieder auf, als wir am Abend vor meinem Haus in Brooklyn aus dem Taxi stiegen.
«Das ist alles meine Schuld», sagte sie. «Ich hatte es schon lange kommen sehen, aber ich war zu schwach, meineInteressen zu vertreten, zu ängstlich, mich zur Wehr zu setzen. So geht das, wenn man denkt, der andere ist besser als man selbst. Man hört auf, selbst zu denken, und dann hat man bald keine Kontrolle mehr über sein eigenes Leben. Man bekommt das gar nicht mit, Onkel Nat, aber man ist geliefert. Absolut am Arsch …
Mein erster Fehler war, mich von Tom abzuwenden. Als ich aus der Entzugsklinik kam, sind David und ich mit Lucy aus Kalifornien weg und in den Osten gegangen. Sechs Monate haben wir bei seiner Mutter in Philadelphia gewohnt, und das ging ganz gut, sogar ziemlich gut. Ich war total verliebt. Noch nie war ein Mann so nett zu mir gewesen, und ich hatte das unglaubliche Gefühl, dieser Mann beschützt mich, dieser kluge, anständige Mann weiß tatsächlich, wer ich bin. Wir hatten beide eine Menge hinter uns. Wir hatten so viel durchgemacht, und nach all diesem Hin
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