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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Zeug und zusammenhanglose Witze vom Stapel gelassen haben, wirres Gerede, dem meine angeheiterten Zuhörer vergeblich zu folgen versuchten. So ziemlich das Einzige, was ich von diesem verrückten Vortrag im Gedächtnis behalten habe, ist eine kurze Nebenbemerkung zum linguistischen Scharfsinn Casey Stengels. Wenn ich mich recht erinnere, beschloss ich meine Ansprache sogar mit einem Zitat des Meisters persönlich. «Man hat ihn nicht umsonst den Alten Professor genannt», sagte ich. «Er war nicht nur der erste Trainer unserer geliebten Mets, sondern auch – und sehr zu Nutz und Frommen der Menschheit – der Erfinder zahlreicher Sentenzen, die unser Verständnis für die englische Sprache neu definiert haben. Bevor ich mich wieder setze, erlaubt mir, euch diese unbezahlbare, unvergessliche Perle aufzutischen, die meine eigenen Erfahrungen weitaus genauer formuliert als alles, was ich in den sechzig Jahren, die ich nun bereits in diesem Körper hause, jemals vernommen habe: ‹Im Leben jedes Mannes kommt einmal eine Zeit, und ich hatte mehr als genug davon.›»
    Die Subway-Series kam und ging; es wurde Herbst undkühl; Gore kandidierte gegen Bush. Wie das Rennen ausgehen würde, stand für mich außer Frage. Auch wenn Nader da noch hineinpfuschte, schien eine Niederlage der Demokraten ausgeschlossen, und nahezu jeder, mit dem ich bei mir im Viertel darüber sprach, war der gleichen Ansicht. Nur Tom, stets der größte Pessimist, wenn es um amerikanische Politik ging, machte ein besorgtes Gesicht. Er glaubte, der Ausgang stünde noch lange nicht fest, und falls Bush die Wahl gewinne, könnten wir das ganze Gewäsch von wegen «konservativ mit Herz» vergessen, sagte er. Der Mann sei nicht konservativ. Sondern ein Ideologe der extremen Rechten, und sobald er den Amtseid abgelegt habe, werde sich die Regierung in der Hand von Irren befinden.
    Eine Woche vor der Wahl tauchte endlich Aurora auf – nur um binnen dreißig Sekunden wieder zu verschwinden. Der Kontakt kam in Form eines Anrufs bei Tom zustande, aber da an diesem Vormittag niemand in der Wohnung war, blieb uns nichts als eine verstümmelte Nachricht auf dem Anrufbeantworter davon. Ich weiß nicht, wie oft ich mir mit Tom und Honey diese Nachricht angehört habe, aber wir spulten das Band so oft zurück, dass ich heute noch jeden Satz auswendig weiß. Jedes Mal, wenn ich sie hörte, klang sie ein wenig verzweifelter, ein wenig gereizter, ein wenig ängstlicher. Sie sprach leise, hob ihre Stimme von Anfang bis Ende kaum über ein Flüstern, aber ihre Worte waren so tödlich, dass sie mit der Wucht eines Schreis einschlugen.
    Tom. Ich bin’s, Rory. Ich bin in einer Telefonzelle und habe nicht viel Zeit. Ich weiß, du hast wahrscheinlich die Nase voll von mir, aber Lucy fehlt mir so sehr, ich muss einfach wissen, wie es ihr geht. Glaub nicht, das hat mir Spaß gemacht, Tom. Ich habe ewig nachgedacht, aber du warst der Einzige, auf den ich mich verlassen konnte. Sie konnte hier nicht mehr bleiben. Alles geht kaputt. Schlechte Nachrichten. Ich habe selbst versucht, hier rauszukommen, aber
es geht nicht, ich bin nie allein   … Schreib mir einen Brief, ja? Ich habe kein Telefon, aber du erreichst mich in der Hawthorn Street 87 in   … Scheiße. Ich muss weg. Entschuldige. Muss weg.
    Der Hörer knallte auf die Gabel, und der lang erwartete Anruf kam zu einem jähen, ergebnislosen Ende. Unsere schlimmsten Befürchtungen hatten das Gewicht einer Tatsache angenommen, und immer noch hatten wir keine Ahnung, wo Aurora sich aufhielt. Tom hatte in der Vergangenheit schon Ähnliches mit seiner Schwester erlebt, und obwohl er sich gewiss nicht weniger Sorgen machte als ich, war seine Unruhe gedämpft von Erschöpfung und Überdruss, jahrelanger Enttäuschung und Trauer. «Sie ist der verantwortungsloseste Mensch, den ich kenne», sagte er. «Nun fängt Lucy endlich an, sich bei uns einzuleben, und da muss sie nach so vielen Monaten anrufen und sagen, dass sie ihr fehlt. Was ist das für eine Mutter? Sie will, dass ich ihr schreibe, und dann sagt sie uns nicht mal, in welcher Stadt sie lebt. Das ist nicht fair, Nathan. Honey und ich tun alles, um ihr zu helfen, und das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist zusätzliche Verwirrung und noch mehr Durcheinander. Jetzt reicht’s.»
    «Sicher ist das nicht fair», sagte ich. «Aber Rory steckt in irgendwelchen Schwierigkeiten, und wir müssen sie finden. Uns bleibt keine Wahl. Heb dir deine Sprüche für später auf,

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