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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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verzweigt, und mein Instinkt ließ mich im Stich. Minors ruhige, freundlich vorgetragene Frage nach Lucys Befinden schien aufrichtiges Interesse an ihrem Wohlergehen zu bekunden, und falls er nicht ein verdammt guter Lügner war, ein Mann, der nicht davor zurückschreckte, die Wahrheit zu verbiegen, wenn es seinen Zwecken diente, befand ich mich auf einmal in der misslichen Lage, ein wenig Mitleidmit ihm zu empfinden. Jedenfalls ging es mir einige Sekunden lang so, und diese jähe, unerwartete Anwandlung von Mitgefühl erwischte mich gänzlich unvorbereitet und machte, was ein purer Machtkampf hatte werden sollen, zu einer sehr viel komplexeren und menschlicheren Angelegenheit. Dann aber war er über Rory hergezogen, hatte sie beschuldigt, sich von ihrer Tochter abgewendet zu haben, hatte ihr geistige Labilität vorgeworfen und schließlich, noch schlimmer, dieses schwachsinnige reaktionäre Zeug über die Ehe vom Stapel gelassen. Dennoch ließen sich gewisse Tatsachen nicht bestreiten. Er hatte sie aus dem Drogensumpf geholt und sich in sie verliebt, und wer hätte angesichts ihrer Vorgeschichte behaupten können, dass sie nicht gelegentlich zu irrationalem Verhalten neigte, dass sie tatsächlich manchmal nicht ganz bei Trost war? Andererseits lief der ganze Konflikt womöglich auf ein einziges unlösbares Problem hinaus: Minor glaubte an die Lehren des Reverend Bob und Rory nicht. Und da sie nicht daran glauben wollte, war seine Liebe nach und nach zu Hass geworden.
    Von meinem Platz auf der Couch hatte ich freie Sicht auf die Treppe, die ins Obergeschoss führte. Während ich noch überlegte, was ich als Nächstes sagen sollte, lenkte eine Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, meinen Blick an Minors Schulter vorbei in diese Richtung – ein kleines dunkles Etwas, das für weniger als eine Sekunde aufgetaucht und, ehe ich es identifizieren konnte, längst wieder verschwunden war. Minor sprach weiter, erläuterte noch einmal seine Vorstellungen von dem, was eine gute und anständige Ehe ausmachte, doch er besaß nicht mehr meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich beobachtete die Treppe, denn inzwischen war ich mir fast sicher, dass es sich bei dem Etwas, das ich gesehen hatte, um einen Schuhgehandelt hatte – Auroras Schuh   –, und wenn das stimmte, hatte sie, hoffte ich, vielleicht schon länger da gestanden und uns seit meinem Eintritt ins Haus belauscht. Minor war so mit seinem Vortrag beschäftigt, dass er noch nicht bemerkt hatte, dass mein Blick an ihm vorbeiging. Scheiß drauf, sagte ich mir. Jetzt reicht’s mit dem Katz-und-Maus-Spiel. Genug um den heißen Brei herumgeredet. Zeit, den Vorhang zum zweiten Akt aufzuziehen.
    «Komm runter, Rory», sagte ich. «Ich bin’s, dein alter Onkel Nat, und ich werde dieses Haus erst wieder verlassen, wenn ich mit dir geredet habe.»
    Ich sprang vom Sofa auf und schob mich an Minor vorbei zum Fuß der Treppe. Ich tat das sehr schnell, für den Fall, dass er versuchen sollte, mich aufzuhalten.
    «Sie schläft», hörte ich seine Stimme hinter mir, gerade als ich am oberen Ende der Treppe einen Blick auf Auroras Beine erhaschte. «Sie hat seit Donnerstag Grippe und hohes Fieber. Kommen Sie Mitte der Woche noch einmal wieder. Dann können Sie mit ihr reden.»
    «Nein, David», rief meine Nichte und kam die Treppe herunter. «Mir geht’s schon besser.»
    Sie trug schwarze Jeans und ein altes graues Sweatshirt, und sie sah tatsächlich mitgenommen aus, ganz und gar nicht auf der Höhe. Blass und dünn, dunkle Ringe unter den Augen, und als sie langsam auf mich zukam, musste sie sich am Geländer festhalten; aber trotz Grippe und Fieber lächelte sie, zeigte das breite, strahlende Lächeln des Lachenden Mädchens, das sie vor so vielen Jahren gewesen war.
    «Onkel Nat», sagte sie und streckte mir die Arme entgegen. «Mein Ritter ohne Furcht und Tadel.» Sie warf sich an mich und umschlang mich mit aller Kraft. «Wie geht’s meinem Baby?», flüsterte sie. «Wie geht’s meiner kleinen Tochter?»
    «Gut geht’s ihr», sagte ich. «Sie sehnt sich sehr nach dir, aber sonst geht es ihr gut.»
    Minor stand inzwischen neben uns und schien nicht sonderlich erfreut über diese familiäre Szene. «Schatz», sagte er. «Du solltest dich wirklich wieder hinlegen. Vor einer halben Stunde hattest du achtunddreißig Komma drei; mit so einem Fieber darfst du nicht im Haus herumlaufen.»
    «Das ist mein Onkel Nat», sagte sie, immer noch verzweifelt an mich geklammert. «Der

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