Die Brooklyn-Revue
und Her hatten wir plötzlich gemeinsam Boden unter den Füßen gefunden und wollten heiraten …
Einmal habe ich Tom in New York besucht, und ich muss zugeben, das hat mich ein wenig deprimiert. Er hatte so viel zugenommen, er hatte sein Studium abgebrochen und arbeitete als Taxifahrer, und er war ziemlich unwirsch zu mir, jedenfalls am Anfang. Nicht dass ich ihm deswegen Vorwürfe gemacht habe. Ich hatte mich so lange nicht gemeldet – warum hätte er mir das nicht übel nehmen sollen? Es gab dafür keine Entschuldigung. Ich hatte mich in diesen Jahren in Kalifornien rumgetrieben, und während ich langsam vor die Hunde gegangen war, hatte ich mich einfach nicht aufraffen können, ihn mal anzurufen. Ich hab versucht, ihm das zu erklären, aber viel genützt hat es nicht. Trotzdem, Tom war immer noch mein großer Bruder, und jetzt, wo es ans Heiraten ging, wollte ich, dass er mich an den Altar führte – so wie du es mit Mom getan hast, als siegeheiratet hat. Er sagte, das wolle er mit Vergnügen tun, und plötzlich war alles wieder wie in alten Zeiten, und ich fing wirklich an, so etwas wie Glück zu empfinden. Ich hatte meinen Bruder wieder. Ich würde David heiraten, und Lucy, meine herrliche kleine Lucy, konnte wieder bei ihrer Mutter leben – bei ihrer dummen kindischen Mutter, die nun endlich erwachsen wurde. Was konnte ich mehr verlangen? Ich hatte alles, was ich wollte, Onkel Nat. Alles …
Dann fuhr ich mit dem Bus nach Philadelphia zurück, und als ich David erzählte, wir würden Tom zur Hochzeit einladen, sagte er, das sei ausgeschlossen, das komme nicht in Frage. Während ich in New York gewesen sei, habe er die ganze Zeit darüber nachgedacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass mein Bruder einen schlechten Einfluss auf mich ausübe. Wenn ich ihn, David, wirklich heiraten wolle, müsse ich mich vollständig von meiner Vergangenheit lösen. Nicht nur von den Freunden, sondern auch von meiner ganzen Familie. Was redest du da?, fragte ich. Ich habe meinen Bruder sehr gern. Er ist der beste Mensch der Welt. Aber David ließ sich auf keine Debatte ein. Er wolle mit mir gemeinsam ein neues Leben anfangen, sagte er, und wenn ich nicht mit allen verderblichen Einflüssen meiner Vergangenheit bräche, würde ich am Ende doch wieder in meine alten Gewohnheiten zurückfallen. Ich müsse mich entscheiden. Alles oder nichts, sagte er. Ein Akt des Glaubens oder ein Akt der Rebellion. Leben mit Gott oder Leben ohne Gott. Heiraten oder nicht heiraten. Ehemann oder Bruder. David oder Tom. Eine hoffnungsvolle Zukunft oder eine elende Rückkehr in die Vergangenheit …
Ich hätte gleich mit der Faust auf den Tisch schlagen sollen. Ich hätte ihm sagen sollen, er kann sich diesen Mist an den Hut stecken, und wenn er glaubt, er kann mich heiraten, ohne Tom zur Hochzeit einzuladen, dann wird ausder Hochzeit eben nichts – Punkt. Aber das habe ich nicht getan. Ich habe mich nicht gewehrt, und dass ich ihm an dieser Stelle seinen Willen ließ, war schon der Anfang vom Ende. Man darf die Macht über sich selbst nicht aus den Händen geben, nicht einmal, wenn man an den anderen glaubt, nicht einmal, wenn man meint, der andere wisse, was am besten für einen sei. Von da an war ich erledigt. Es war mehr als nur die Angst, David zu verlieren. Das wirklich Beängstigende war, dass ich dachte, er könnte Recht haben. Ich habe Tommy geliebt, aber was hatte er je von mir gehabt – außer jede Menge Kummer und Verdruss? Ich dachte, vielleicht ist es besser, wenn ich den Kontakt abbreche und ihn in Ruhe lasse. Vielleicht ist er besser dran, wenn er mich nie wiedersieht …
Nein, David hat mich nie geschlagen. Er hat Lucy nie geschlagen und mich auch nicht. Er ist kein gewalttätiger Mensch. Er hat’s mit Reden. Er redet und redet und redet. Und dann redet er noch mehr. Er zermürbt einen mit seinen Erörterungen, und weil er eine so freundliche und vernünftige Stimme hat und weil er sich so gut auszudrücken vermag, nimmt er einen sozusagen gefangen – das wirkte beinahe wie Hypnose. In der Entzugsklinik in Berkeley war das meine Rettung. Wie er da mit seiner sanften, festen Stimme auf mich eingeredet hat, wie er mir mit dieser barmherzigen Miene in die Augen gesehen hat. Man kann sich ihm nur schwer widersetzen, Onkel Nat. Er nistet sich in deinem Kopf ein, und nach einer Weile denkst du, dieser Mann irrt sich überhaupt nie …
Ich weiß, dass Tom sich Sorgen gemacht hat. Er hatte Angst, ich würde auch so
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