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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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wie die, in die wir in Philadelphia gegangen sind. Der Reverend bezeichnet sich als Christen, aber er sagt nie, was für einer er ist, und ich bin mir nicht mal sicher, ob er mit Religion überhaupt was am Hut hat. Ihm geht es darum, Leute zu beherrschen, er will sie dazu bringen, verrückte, selbstzerstörerische Dinge zu tun, und sie sollen glauben, sie täten das im Auftrag Gottes. Ich halte ihn für einen Schwindler, er ist ein Scharlatan, aber seine Anhänger fressen ihm aus der Hand, sie lieben ihn, sie alle lieben ihn, und David liebt ihn mehr als alle anderen. Vor allem begeistert sie an ihm, dass er dauernd mit neuen Ideen ankommt und seine Botschaft ständig abändert. An einem Sonntag geht es um die Übel des Materialismus und dass wir auf weltlichen Besitz verzichten und wie der Sohn unseres lieben Gottes in heiliger Armut leben sollen. Am nächsten Sonntag geht es um harte Arbeit und dass wir so viel Geld verdienen sollen wie nur irgend möglich. Ich habe David gesagt, ich halte diesen Mann für einen Spinner und will Lucy diesem Gewäsch nicht mehr aussetzen. Aber David war inzwischen ganz auf den neuen Glauben eingeschwenkt und hörte mir gar nicht mehr zu. Zwei oder drei Monate später verkündet Reverend Bob plötzlich, dass beim sonntäglichen Gottesdienst nicht mehr gesungen werden soll. Das ist eine Beleidigung für Gottes Ohren, sagt er, von jetzt an sollen wir ihn nur noch schweigend verehren. Für mich hat das das Fass zumÜberlaufen gebracht. Ich habe David erklärt, Lucy und ich treten aus der Kirche aus. Er könne so lange weitermachen, wie er wolle, aber wir würden keinen Fuß mehr in dieses Haus setzen. Es war das erste Mal seit unserer Hochzeit, dass ich ihm deutlich die Meinung gesagt hatte – und es hat mir kein bisschen geholfen. Er heuchelte Verständnis, erklärte aber, die Vorschriften verlangten, dass alle Familien der Gemeinde jeden Sonntag gemeinsam den Gottesdienst zu besuchen hätten. Wenn ich aussteige, würde er exkommuniziert. Wenn das so ist, sagte ich, erzähl ihnen einfach, Lucy und ich seien krank, wir hätten eine tödliche Krankheit und müssten im Bett bleiben. David lächelte bloß, traurig und gönnerhaft. Unaufrichtigkeit ist eine Sünde, sagte er. Wenn wir nicht immer die Wahrheit sagen, werden unsere Seelen an den Pforten des Himmels abgewiesen und in den Rachen der Hölle geschleudert   …
    Also gingen wir weiter jede Woche hin, und einen Monat später hatte Reverend Bob seine nächste tolle Idee. Die weltliche Kultur zerstöre Amerika, sagte er, und weiteren Schaden könnten wir nur abwenden, wenn wir alles verweigerten, was sie uns anbiete. An dem Tag ging das mit seinen so genannten Sonntagserlassen los. Als Erstes mussten alle ihre Fernseher weggeben. Dann die Radios. Dann die Bücher – alle Bücher im Haus außer der Bibel. Dann das Telefon. Dann den Computer. Dann CDs, Kassetten und Schallplatten. Kannst du dir das vorstellen? Keine Musik mehr, Onkel Nat, keine Romane, keine Gedichte. Dann mussten wir unsere Zeitschriftenabos kündigen. Dann die Tageszeitungen. Dann durften wir nicht mehr ins Kino gehen. Der Idiot ist völlig durchgedreht, aber je mehr Opfer er von der Gemeinde verlangte, desto mehr schien es ihnen zu gefallen. Soviel ich weiß, ist keine einzige Familie ausgestiegen   …
    Am Ende war nichts mehr übrig, was man noch hätte weggeben können. Der Reverend stellte seine Attacken auf die Kultur und die Medien ein und wandte sich den «wesentlichen Dingen» zu, wie er das nannte. Immer wenn wir sprechen, übertönen wir die Stimme Gottes. Immer wenn wir andere Menschen reden hören, missachten wir die Worte Gottes. Von jetzt an, sagte er, muss jedes Mitglied der Kirche, das älter als vierzehn Jahre ist, einen Tag in der Woche in vollständigem Schweigen verbringen. Auf diese Weise könnten wir die Verbindung zu Gott wiederherstellen und ihn in unserer Seele sprechen hören. Nach all den anderen Nummern, die er mit uns abgezogen hatte, schien mir das eine ziemlich milde Forderung   …
    Da David von Montag bis Freitag arbeitet, nahm er sich den Samstag als seinen Schweigetag. Meiner war Donnerstag, aber da niemand in meiner Nähe war, bis Lucy aus der Schule kam, konnte ich sowieso machen, was ich wollte. Ich sang, ich redete mit mir selber, ich fluchte lauthals über den allmächtigen Reverend Bob. Aber sobald Lucy oder David zur Tür hereinkamen, musste ich ihnen was vorspielen. Ich stellte ihnen schweigend das Essen hin, schweigend

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