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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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können. Ich glaube nicht, dass ich jemals unempfänglicher für meine Umgebung, mehr in mich selbst verschlossen war als in dieser Nacht. Nichts schien mir real außer meinem eigenen Körper, und als ich dort lag und mich in meiner Gebrechlichheit suhlte, entwickelte ich die fixe Idee, das Gewirr der Venen und Arterien in meiner Brust, das dichte Netzwerk aus Schleim und Blut als Ganzes vor meinem inneren Auge sichtbar werden zu lassen. Ich befand mich in meinem Körper, wühlte mit einer Art konfuser Verzweiflung in mir herum, war aber zugleich auch weit weg, schwebte über dem Bett, über der Decke, über dem Dach des Krankenhauses. Ich weiß, das klingt ziemlich wirr, aber in diesem engen Raum mit den piependen Apparaten und den Kabeln an meiner Haut war ich so nah am Nirgendwo wie nie zuvor, gleichzeitig in und außer mir.
    So geht es dir, wenn du im Krankenhaus landest. Sie ziehen dir die Kleider aus, stecken dich in einen dieser demütigenden Kittel, und plötzlich bist du nicht mehr du selbst. Du wirst die Person, die in deinem Körper wohnt, du bist jetzt nur noch die Summe der Defekte dieses Körpers. Derart reduziert, verlierst du jedes Recht auf Privatleben. Wenn die Ärzte und Schwestern reinkommen und dir Fragenstellen, musst du sie beantworten. Sie wollen dich am Leben erhalten, und nur ein Mensch, der nicht mehr leben will, würde ihnen falsche Antworten geben. Wenn du zufällig in so einer winzigen Kabine liegst und nur einen Meter rechts von dir wird ein anderer von einem Arzt oder einer Schwester befragt, kommst du nicht daran vorbei, die Antworten dieses anderen mitzuhören. Nicht dass du das unbedingt hören willst, aber du befindest dich in einer Lage, die es dir unmöglich macht, es nicht zu hören. Auf diese Weise lernte ich Omar Hassim-Ali kennen, einen dreiundfünfzigjährigen, in Ägypten geborenen Geldtransportfahrer, verheiratet, vier Kinder, sechs Enkel. Er wurde kurz nach ein Uhr morgens eingeliefert, nachdem bei ihm Brustschmerzen aufgetreten waren, als er gerade mit einer Ladung über die Brooklyn Bridge fuhr. Innerhalb weniger Minuten erfuhr ich, dass er Tabletten gegen seinen hohen Blutdruck nahm, dass er immer noch täglich ein Päckchen rauchte, sich aber Mühe gab, seinen Konsum einzuschränken, dass er Hämorrhoiden hatte und sich gelegentlich benommen fühlte und dass er seit 1980 in Amerika lebte. Als der Arzt gegangen war, unterhielten Omar Hassim-Ali und ich uns fast eine Stunde lang. Es spielte keine Rolle, dass wir uns nicht kannten. Wenn ein Mann glaubt, dass er bald sterben wird, redet er mit jedem, der ihm zuhört.
    Ich schlief in dieser Nacht sehr wenig – ein paar Nickerchen von jeweils zehn bis fünfzehn Minuten   –, und erst ungefähr eine Stunde nach Sonnenaufgang döste ich einmal richtig ein. Um acht kam eine Schwester, um meine Temperatur zu messen, und als ich den Blick nach rechts wandte, war das Bett meines Nachbarn leer. Ich fragte sie, was aus Mr.   Hassim-Ali geworden sei, aber sie konnte mir keine Auskunft geben. Ihre Schicht habe gerade erst angefangen, sagte sie, sie wisse nicht Bescheid.
    Alle vier Stunden kamen die negativen Ergebnisse der Blutuntersuchung. Am Vormittag besuchten mich Joyce, Tom und Honey, Aurora und Nancy – aber sie durften alle nur wenige Minuten bleiben. Am frühen Nachmittag kam auch noch Rachel. Alle begannen mit derselben Frage, wie es mir gehe?, und allen gab ich dieselbe Antwort: Gut, gut, gut, macht euch keine Sorgen um mich. Der Schmerz hatte sich inzwischen verzogen, und allmählich wuchs meine Zuversicht, noch einmal mit heiler Haut davonzukommen. Ich sagte: Ich habe nicht den Krebs überlebt, um jetzt an einem idiotischen Herzinfarkt zu sterben. Eine absurde Behauptung, aber als im Lauf des Tages weiter nur negative Testergebnisse gemeldet wurden, sah ich darin den logischen Beweis dafür, dass die Götter mich verschonen wollten, dass sie mit der Attacke am Abend zuvor lediglich ihre Macht über mein Schicksal demonstriert hatten. Ja, ich konnte jeden Augenblick sterben – und, ja, als ich im Wohnzimmer auf dem Boden in Joyces Armen lag, hatte ich wirklich geglaubt, sterben zu müssen. Wenn aus dieser kurzen Begegnung mit der Sterblichkeit etwas zu lernen war, dann nur, dass mein Leben in der engsten Bedeutung des Wortes nicht mehr mir selbst gehörte. Ich brauchte mich nur an den Schmerz zu erinnern, der mich in diesem furchtbaren Augenblick zerrissen hatte, um zu begreifen, dass jeder Atemzug, der jetzt noch

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