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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Tischgespräch in eine andere Richtung zu lenken. Als Erstes fragt er Honey nach ihrer Arbeit. Wie lange sie das schon macht, aus welchen Motiven heraus sie überhaupt Lehrerin geworden ist, was sie vom Schulwesen in Brattleboro hält und so weiter. Seine höflich gelangweilten Fragen sind von einer geradezu lachhaften Banalität, und während er mit Honey spricht, sehe ich ihm an seiner Miene an, dass er keinerlei Anteil an ihr nimmt – sie interessiert ihn weder als Frau noch als Mensch. Aber Honey ist zu abgebrüht, als dass Toms Gleichgültigkeit sie davon abhalten würde, ihm klug und charmant zu antworten, und bald hat sie das Gespräch an sich gerissen und überhäuft unseren Jungen nun ihrerseits mit Fragen. Ihre Aggressivität bringt Tom für kurze Zeit aus der Fassung, doch als er begreift, dass seine Gesprächspartnerin es intellektuell mit ihm aufnehmen kann, zeigt er sich der Situation gewachsen und teilt ebenso viel aus, wie er einstecken muss. Mehr oder weniger stumm, aber ziemlich amüsiert verfolgen Stanley und ich den verbalen Schlagabtausch, der sich da vor unseren Augen abspielt. Wie kaum anders zu erwarten, kommen sie auch auf Politik und die im November anstehenden Wahlen zu sprechen. Tom zieht gegen die Machtübernahme durch die Rechten vom Leder. Er nennt den beinahe gelungenen Vernichtungsfeldzug gegen Clinton, die Machenschaften der Abtreibungsgegner, die Waffenlobby, die faschistischePropaganda in den Diskussionssendungen mancher Radiosender, die Feigheit der Presse, die Gesetzgebung einzelner Bundesstaaten, wonach die Evolutionslehre nicht mehr an den Schulen unterrichtet werden darf. «Wir marschieren rückwärts», sagt er. «Tag für Tag verlieren wir ein weiteres Stück unseres Landes. Wenn Bush gewählt wird, wird nichts mehr übrig bleiben.» Zu meiner Überraschung stimmt Honey ihm hundertprozentig zu. Für annähernd dreißig Sekunden herrscht Frieden, und dann erklärt sie, sie werde ihre Stimme Nader geben.
    «Tun Sie das nicht», sagt Tom. «Jede Stimme für Nader ist eine Stimme für Bush.»
    «Falsch», sagt Honey. «Eine Stimme für Nader ist eine Stimme für Nader. Außerdem gewinnt in Vermont sowieso Gore. Wenn ich das nicht genau wüsste, würde ich meine Stimme ihm geben. So aber kann ich meinen kleinen Protest bekunden und Bush trotzdem aus Washington fern halten.»
    «In Vermont kenne ich mich nicht aus», sagt Tom, «aber fest steht, die Wahl wird äußerst knapp ausgehen. Und wenn in den jetzt noch unentschiedenen Bundesstaaten genug Leute so denken wie Sie, wird Bush die Wahl gewinnen.»
    Honey kann nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Tom ist so verdammt ernst, dass es sie in den Fingern juckt, ihn mit irgendeiner verrückten, bizarren Bemerkung von seinem hohen Ross zu holen. Ich sehe den Witz schon kommen und drücke beide Daumen, dass es ein guter wird.
    «Wissen Sie, was passiert ist, als das letzte Mal eine Nation auf einen Busch gehört hat?», fragt Honey.
    Niemand sagt ein Wort.
    «Die Menschen sind für vierzig Jahre in die Wüste gegangen.»
    Tom kann nicht anders, er muss laut lachen.
    Das Gerangel hat ein jähes, definitives Ende gefunden, und Honey geht als klarer Sieger vom Platz.
    Ich will nicht übertreiben, aber ich vermute stark, dass Tom seinen Meister gefunden hat. Ob sich daraus etwas ergibt, ist eine andere Sache, abhängig von der Zeit und den rätselhaften Wegen des Fleisches. Ich nehme mir vor, die weitere Entwicklung im Auge zu behalten.
     
    Früh am nächsten Morgen rufe ich Al Junior auf der Tankstelle an, aber er ist noch nicht schlau daraus geworden, was mit dem Auto los ist. «Ich arbeite gerade daran», sagt er. «Sobald ich es weiß, melde ich mich.»
    Ich staune selbst, wie wenig mich diese Auskunft berührt. Falls überhaupt, bin ich froh, noch einen Tag auf unserem Hügel festzusitzen, froh, noch nicht an die Rückkehr nach New York denken zu müssen.
    Ich habe an diesem Morgen etwas zu erledigen, jedoch gelingt es mir nicht, Stanley dazu zu bringen, einmal lange genug sitzen zu bleiben, dass ich ein ernstes Gespräch mit ihm anfangen kann. Er macht uns Frühstück, aber kaum hat er die Teller vor uns hingestellt, rennt er auch schon aus der Küche nach oben, um unsere Betten zu machen. Danach hat er verschiedene Dinge im Haus zu tun: Glühbirnen einschrauben, Teppiche ausklopfen, verklemmte Schiebefenster reparieren. Mir bleibt nichts übrig, als auf eine spätere Gelegenheit zu hoffen.
    Der Morgen ist kühl und neblig.

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