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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Person umzugehen vermag. Ein patentes Mädchen, denke ich, und zweifellos auch gut im Bett. Nicht hübsch, aber auch nicht unhübsch. Strahlend blaue Augen, volle Lippen, eine dichte Mähne rötlich blonden Haars. Als wir ihr helfen, die Einkaufstüten aus dem Kofferraum zu laden, bemerke ich, dass sie Tom mit etwas mehr als distanzierter Neugier beobachtet. Der Trottel bekommt nichts davon mit, aber ich beginne mich zu fragen, ob diese energische, gescheite junge Frau nicht die Antwort auf meine Gebete sein könnte. Schluss mit der ätherischen S. p. M. , hier haben wir eine unverheiratete Frau, die darauf aus ist, sich einen Mann zuangeln. Eine Dampfwalze. Ein Tornado. Ein ausgehungertes, resolutes Weibsbild, das unseren Jungen womöglich bezwingen könnte.
    Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag beschließe ich, meine Gedanken für mich zu behalten und Tom nichts zu sagen.
     
    Sie macht uns, wie von Stanley verheißen, ein ausgezeichnetes Abendessen. Brunnenkressesuppe, Schweinelendenbraten, Bohnen mit Mandeln, zum Nachtisch Crème caramel, dazu reichlich Wein. Nun tut mir Pamela mit ihrem verhinderten Festmahl doch ein wenig Leid, auch wenn ich bezweifle, dass uns in Burlington ein üppigeres Mahl erwartet hätte als das, was uns im Chowder Inn aufgetischt wird.
    Die siegreiche Lucy, erlöst von drohender Knechtschaft, hat sich zum Essen umgezogen; sie trägt ihr rotweiß kariertes Kleid, die schwarzen Lackschuhe und weiße Söckchen mit Spitzensaum. Schwer zu sagen, ob Stanley sich nicht für das Verhalten anderer Menschen interessiert oder ob er einfach nur überaus taktvoll ist, jedenfalls hat er zu Lucys Schweigen noch nichts gesagt. Es ist seine scharfsichtige Tochter, die nach zehn Minuten unverblümt darauf zu sprechen kommt.
    «Was hat sie?», fragt sie. «Kann sie nicht sprechen?»
    «Natürlich kann sie», antworte ich. «Aber sie will nicht.»
    «Sie will nicht?», sagt Honey. «Was soll das heißen?»
    «Das ist ein Test», platze ich mit der erstbesten Lüge heraus, die mir in den Kopf kommt. «Lucy und ich haben gestern darüber gesprochen, was einem besonders schwer fällt, und wir fanden beide, so ziemlich das Schwerste ist es, einfach den Mund zu halten. Und dann haben wir eine Abmachung getroffen. Lucy hat erklärt, sie werde drei Tagelang kein Wort sagen. Für den Fall, dass sie das schafft, habe ich ihr fünfzig Dollar versprochen. Stimmt’s, Lucy?»
    Lucy nickt.
    «Und wie viel Tage sind noch übrig?», fahre ich fort.
    Lucy hebt zwei Finger.
    Aha, denke ich, na bitte. Jetzt hat sie’s endlich ausgespuckt. Noch zwei Tage, dann hat die Qual ein Ende.
    Honey kneift die Augen zusammen, ihre Miene drückt Zweifel und Besorgnis aus. Kinder sind schließlich ihr Geschäft, und sie spürt, da stimmt etwas nicht. Aber da ich ihr fremd bin, stellt sie mich nicht wegen des fragwürdigen, bedenklichen Spiels zur Rede, das ich mit diesem kleinen Mädchen treibe, sondern geht das Problem von einer anderen Seite an.
    «Warum ist das Kind nicht in der Schule?», fragt sie. «Heute ist Montag, der fünfte Juni. Die Sommerferien beginnen erst in drei Wochen.»
    «Weil   …», greife ich krampfhaft nach dem nächsten Strohhalm, «Lucy eine Privatschule besucht   … und dort ist das Schuljahr kürzer als sonst. Bei ihr war schon am Freitag Schluss.»
    Wieder bin ich überzeugt, dass Honey mir nicht glaubt. Um ein Haar hätte sie die Grenze zur Unhöflichkeit überschritten, und jetzt gibt sie es auf, mich wegen Dingen zu verhören, die sie nichts angehen. Ich mag diese stämmige, ungenierte Frau, und ich mag auch ihren Vater, der mir gegenüber schweigend sein Essen kaut und seinen Wein trinkt, aber es liegt mir fern, sie in die Geheimnisse unserer Familie einzuweihen. Nicht dass ich mich unseretwegen schäme – aber, mein Gott, sage ich mir, was sind wir nur für eine Familie. Was für ein bunter Haufen verpfuschter, geschundener Seelen. Was für Musterexemplare menschlicher Unvollkommenheit. Ein Vater, dessen Tochter nichts mehrmit ihm zu tun haben will. Ein Bruder, der seit drei Jahren nichts mehr von seiner Schwester gehört hat. Und ein kleines Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist und sich weigert, auch nur ein Wort zu sagen. Nein, ich habe nicht vor, den Chowders die Wahrheit über unseren kaputten, nichtsnutzigen Clan zu erzählen. Nicht heute Abend. Nicht heute Abend, und ganz gewiss auch nicht später.
    Tom sieht das offenbar ähnlich, denn er schaltet sich hastig ein und versucht das

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