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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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steht
The Chowder Inn
, aber ein Teil von mir hat längst begriffen, dass wir im Hotel Existenz angelangt sind. Ich beschließe, Tom fürs Erste nichts davon zu sagen.
     
    Bevor wir zu unseren Zimmern geführt werden, ruft Tom vom Empfangsraum aus Pamela an und erklärt ihr, was uns zugestoßen ist. Stanley ist oben und macht die Betten. Lucy schlendert zum Sofa, und gleich darauf kniet sie am Boden und streichelt Stanleys Hund, einen schwarzen Labrador, der auf den Namen Spot hört. Ohne es zu wollen, denke ich an Harry und seinen albernen Spruch, der mir seit zwei Wochen nicht mehr aus dem Kopf geht:
Ex ist das Entscheidende
. In diesem Fall ist das Entscheidende ein vierbeiniges Tier, und während der Hund Lucy das Gesicht ableckt, halte ich mich in Toms Nähe, falls ich Pamela auch noch ein paar Worte sagen soll. Der Fall tritt nicht ein, und so höre ich Tom zu und wundere mich über die gereizteReaktion seiner Stiefschwester auf die Nachricht, dass unsere Ankunft in Burlington sich verzögern wird. Als ob wir an der Autopanne selbst schuld wären. Als ob nicht ständig irgendetwas Unvorhergesehenes passierte. Aber Pamela hat gerade anderthalb Stunden im Supermarkt verbracht und schuftet jetzt «wie eine Verrückte» in der Küche, damit das Essen auf dem Tisch steht, wenn wir kommen. Zum Zeichen ihrer Gastfreundlichkeit und dass wir ihr willkommen sind, hat sie eine aufwendige Mahlzeit mit mehreren Gängen geplant, alles Mögliche von Gazpacho bis zu selbst gemachtem Pecan Pie, und sie ist reichlich verstimmt, ja geradezu wütend, als sie erfährt, dass ihre ganze Mühe vergeblich war. Tom entschuldigt sich ein Dutzend Mal, doch Pamela lässt nicht ab von ihrer Schimpferei. Ist das die neue, bessere Pamela, von der ich so viel gehört habe? Wenn sie nicht einmal so eine kleine Enttäuschung locker wegstecken kann, wie wird sie dann erst als Lucys Ersatzmutter sein? Eine neurotische Spießbürgerin, die sie ungeduldig mit unmöglichen Forderungen überhäuft, ist das Letzte, was die Kleine jetzt brauchen kann.
    Noch bevor Tom den Hörer auflegt, steht für mich fest, dass die Burlington-Lösung gestorben ist. Ich streiche Pamela von der Liste und ernenne mich selbst zu Lucys einstweiligem Vormund. Bin ich besser geeignet als Pamela, mich um Lucy zu kümmern? Nein, in fast jeder Beziehung wahrscheinlich nicht, aber mein Instinkt sagt mir, dass ich für sie verantwortlich bin – ob mir das gefällt oder nicht.
    Tom legt auf und schüttelt den Kopf. «Die Frau ist stinksauer», sagt er.
    «Vergiss sie», antworte ich.
    «Wie meinst du das?»
    «Ich meine, dass wir nicht mehr nach Burlington fahren.»
    «Ach? Seit wann?»
    «Seit gerade eben. Wir bleiben hier, bis der Wagen repariert ist, und dann fahren wir alle zusammen wieder nach Brooklyn zurück.»
    «Und wie soll es mit Lucy weitergehen?»
    «Sie kann bei mir wohnen.»
    «Als wir gestern darüber sprachen, hast du gesagt, das sei nichts für dich.»
    «Ich hab’s mir anders überlegt.»
    «Wir sind also den ganzen Weg umsonst gefahren.»
    «Nicht direkt. Sieh dich um, Tom. Wir sind im Paradies gelandet. Ein paar Tage Ruhe und Entspannung, und dann fahren wir wie neugeboren nach Hause.»
    Lucy, nur drei Meter von uns entfernt, hört jedes Wort unseres Gesprächs mit. Als ich mich nach ihr umdrehe, wirft sie mir mit beiden Händen Kusshände zu – küsst sich schmatzend die Fingerspitzen und schwingt die Arme nach vorn wie eine gefeierte Hauptdarstellerin nach der Premiere. Es macht mich glücklich, sie so glücklich zu sehen, aber es macht mir auch Angst. Habe ich überhaupt eine Vorstellung davon, auf was ich mich da einlasse?
    Plötzlich denke ich an einen Spruch aus einem Film, den ich Ende der Siebziger gesehen habe. Der Titel fällt mir jetzt nicht ein, auch die Handlung und die Figuren sind mir entglitten, aber die Worte habe ich noch im Ohr, als hätte ich sie erst gestern gehört. «Kinder sind ein Trost für alles – außer dafür, Kinder zu haben.»
     
    Als Stanley uns im Obergeschoss unsere Zimmer zeigt, erklärt er, dass Peg, die verstorbene Mrs.   Chowder («seit vier Jahren ist sie jetzt tot»), die Möbel ausgesucht hat, die Bettbezüge, die Tapeten, die Jalousien, die Läufer, die Lampen, die Vorhänge und jeden einzelnen der vielenkleinen Gegenstände, die auf allen Tischen, Nachttischen und Kommoden zu sehen sind: die Spitzendeckchen, die Aschenbecher, die Kerzenhalter, die Bücher. «Eine Frau von untadeligem Geschmack», sagt er. Auf

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