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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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allzu drastisch sein, eine fast schon hysterische Reaktion auf die Seelenqual, die ihn bedrängte, aber wer konnte ihm einen Vorwurf daraus machen, dass er (mit seinen Worten)
einige
Vorkehrungen
treffen wollte? Im Lichte dessen, was sich an diesem Tag zugetragen hatte, erschien das nun als Akt ungemeiner Klugheit.
    Die zwei in dem Testament als Begünstigte Genannten waren Tom Wood und Rufus Sprague. Sie sollten nicht nur das Gebäude an der Seventh Avenue erben, sondern auch das Antiquariat Brightman’s Attic, einschließlich des gesamten zu diesem Unternehmen gehörenden Waren- und Geldbestandes. Daneben wurden andere, kleinere Vermächtnisse erwähnt – diverse Bücher, Gemälde und Schmuckstücke, die Leuten zugedacht waren, deren Namen mir nichts sagten   –, aber die Hauptmasse von Harrys Besitz ging an Tom und Rufus, die die Einnahmen aus Brightman’s Attic zu gleichen Teilen unter sich aufteilen sollten. Auf dem Gebäude lastete keine Hypothek, und die Bücher und Manuskripte in dem Zimmer, in dem ich jetzt saß, waren von beträchtlichem Wert, sodass sich die Erbschaft insgesamt auf ein kleines Vermögen belief, mehr Geld, als die beiden sich je hätten erträumen können. Im allerletzten Moment hatte Harry sein Riesending abgezogen, seinen Coup schlechthin. Er hatte für seine Jungs gesorgt.
    Jetzt wurde mir klar, wie sehr ich ihn unterschätzt hatte. Der Mann mochte sich zu einem Schelm und Halunken entwickelt haben, aber ein Teil von ihm war der zehnjährige Junge geblieben, der davon geträumt hatte, Waisenkinder aus den zerbombten Städten Europas zu retten. Trotz all seiner witzelnden Respektlosigkeit, trotz all seiner Sünden und Lügen hatte er den Glauben an die Grundsätze des Hotels Existenz nie aufgegeben. Der gute alte Harry Brightman. Der komische alte Harry Brightman. Hätte auf seinem Schreibtisch eine Flasche gestanden, ich hätte mir ein Glas eingeschenkt und zu seinem Gedenken ausgetrunken. Stattdessen griff ich zum Telefon und wählte GordonsNummer. Das lief auf lange Sicht wahrscheinlich auf das Gleiche hinaus.
    Er ging nicht ran, aber nach dem vierten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein, und ich hörte zum ersten Mal seine Stimme – eine ungewöhnlich ruhige und wachsame Stimme, wie mir schien, emotionslos und ziemlich monoton. Zum Glück nannte er eine zweite Nummer, unter der er zu erreichen sei (die von Trumbell, nahm ich an), was mir die Mühe ersparte, selbst danach zu suchen. Ich wählte noch einmal, rechnete freilich damit, dass niemand abnehmen würde, denn ich vermutete, Dryer und Trumbell ließen jetzt sicher irgendwo in Brooklyn die Korken knallen und feierten ihren Triumph. Ich überlegte schon, ob ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen sollte, als das Klingeln plötzlich abbrach und ich zum zweiten Mal innerhalb von dreißig Sekunden Dryers Stimme vernahm. Ich wusste zwar ganz genau, dass er das am anderen Ende der Leitung war, fragte aber sicherheitshalber trotzdem, ob ich Gordon Dryer sprechen könne.
    «Am Apparat», sagte er. «Wer spricht da?»
    «Nathan», antwortete ich. «Wir haben uns nie gesehen, aber ich glaube, Sie haben von mir gehört. Ein Freund von Harry Brightman. Der Wahrsager.»
    «Keine Ahnung, wovon Sie reden.»
    «Aber ja doch. Als Sie und Ihr Freund heute Harry besucht haben, hat jemand hinter der Tür gestanden und Ihr Gespräch belauscht. Einmal hat Harry meinen Namen genannt. ‹Ich hätte auf Nathan hören sollen›, hat er gesagt, und Sie haben gefragt: ‹Wer ist Nathan?› Darauf hat Harry mich als einen Wahrsager bezeichnet. Erinnern Sie sich jetzt? Wir reden hier nicht von der fernen Vergangenheit, Mr.   Dryer. Sie haben das erst vor wenigen Stunden gehört.»
    «Wer sind Sie?»
    «Ich bin der Überbringer schlechter Neuigkeiten. Ich bin der Mann, der Drohungen und Warnungen ausspricht, der den Leuten sagt, was sie zu tun haben.»
    «Ach? Und was habe ich Ihrer Meinung nach zu tun?»
    «Ihr Sarkasmus gefällt mir, Gordon. Die Kälte in Ihrer Stimme entgeht mir nicht, und die bestätigt mir, dass ich Sie richtig eingeschätzt habe. Ich danke Ihnen. Danke, dass Sie mir die Aufgabe so leicht machen.»
    «Ich brauche bloß aufzulegen, dann ist unser Gespräch beendet.»
    «Aber Sie werden nicht auflegen, richtig? Sie machen sich vor Angst in die Hose, und Sie werden alles tun, um herauszufinden, was ich weiß. Habe ich Recht oder nicht?»
    «Sie wissen überhaupt nichts.»
    «Sie dürfen gern noch einmal

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