Die Bruderschaft Christi
nicht die Auseinandersetzung mit der Geschichte«, erklärte Pater Leonardo, der einen dunklen Anzug trug und nur durch ein kleines Kreuz am Revers seiner Jacke als Kirchenmann zu erkennen war. »Es gibt einzelne Stimmen, die Raful mit seiner Theorie aufgeschreckt hat. Wir müssen einfach eingestehen, dass die Übersetzungen der Schriften von Qumran kein lobenswertes Kapitel unserer Zeitgeschichte waren. Ein offener Umgang mit den Funden und mit den archäologischen Kollegen wäre der Sache sicherlich zuträglicher gewesen. Deshalb meine Bitte, machen Sie Ihren ganzen Einfluss geltend. Wir müssen der neuerlichen Ausgrabung vor den Toren der Heiligen Stadt offen ins Auge blicken. Aber es schadet nicht, wenn wir rechtzeitig Informationen über den Fortgang des Projektes erhalten.«
Jean Michel Picquet war kein Mann der Kirche. Zwar war er Christ und mitunter auch gläubig, wenn es gerade von Nutzen war, vor allem aber war er Geschäftsmann und verfügte über hervorragende Kontakte nach Jerusalem und in die ganze Welt, die noch aus seiner Zeit als Handelsattaché des französischen Außenministeriums stammten. Und außerdem war er ein sehr guter Freund Pater Leonardos.
»Nun gut, lieber Freund«, erwiderte Picquet, »ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Aber wäre es nicht sinnvoll, wenn Sie über die École Archéologique Française ihren Einfluss geltend machen würden?«
»Sie kennen Raful«, entgegnete Pater Leonardo. »Er wird es unseren Männern nicht gestatten, auch nur in die Nähe der Ausgrabungsstätte zu kommen. Er hat Macht und Einfluss. Außerdem ist es besser, wenn die Kirche in dieser Sache nicht offiziell in Erscheinung tritt. Sie verfügen über weit mehr Möglichkeiten als Rom. Überdies wäre es … sagen wir, unverfänglich, wenn niemand die Kurie mit den Nachforschungen in Jerusalem in Verbindung bringen könnte. Was würde man über uns denken, wenn man Rafuls Hirngespinste in Rom ernst nähme.«
»Ich verstehe«, antwortete Picquet und setzte sich auf eine Bank am Seineufer. Pater Leonardo tat es ihm nach. Er blickte über das grünlich schimmernde Wasser des breiten Flusses, auf dem ein Ausflugsboot voller Menschen vorüberfuhr.
»Pater, Sie können sich voll auf mich verlassen«, sagte Picquet nach einer Weile. »Darf ich Sie heute Abend zum Essen einladen?«
»Ducasse oder Le Grand Véfour?«
»Ducasse«, entgegnete Picquet. »Ich werde einen Tisch reservieren. Sagen wir, um acht?«
»Ich freue mich«, antwortete Pater Leonardo. »Paris ist doch immer wieder eine Reise wert.«
Wieskirche bei Steingaden, Bayern …
Die junge Frau schluchzte. »Der Josef ist ein herzensguter Mensch. Wer tut bloß so etwas Schreckliches?«
»Deshalb sind wir hier«, antwortete Hauptkommissarin Lisa Herrmann. »Wir wollen es herausfinden. Also noch einmal meine Frage, haben Sie gestern oder in der Nacht irgendetwas bemerkt, das Ihnen verdächtig erschien?«
Die junge Frau wischte sich die Tränen von der Wange. »Ich nehme schon seit einer Woche Schlaftabletten, damit ich überhaupt noch einschlafen kann. Vor drei Wochen starb unser Pfarrer und jetzt der Josef. Manchmal glaube ich, dass es überhaupt keinen Gott gibt.«
»Waren gestern viele Besucher in der Kirche?«
Die Frau schluchzte. »Wenn es schön draußen ist, dann kommen jeden Tag mehrere hunderte Leute zur Besichtigung. Gestern dürften es auch an die zweihundert gewesen sein. Die Kirche wird gerne besichtigt. Schließlich gehört sie mittlerweile zum Kulturerbe in Europa.«
Lisa Herrmann nickte. »War in der letzten Woche etwas anders als sonst?«
Die junge Frau blickte die Beamtin mit großen Augen an. »Alles ist anders, seit unser Pfarrer, der liebenswürdige Pater Johannes, von uns gegangen ist.«
»Ich verstehe«, antwortete Lisa einfühlsam. »Aber wir wollen den Mord an dem Kirchendiener aufklären. Dazu benötigen wir Ihre Mithilfe. Es ist wichtig, dass wir einen Ansatzpunkt finden. In die Kirche wurde offenbar nicht eingebrochen. Das Schloss wurde nicht aufgewuchtet. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Was bedeutet das?«, fragte die junge Frau.
»Das bedeutet«, antwortete Lisa, »wir müssen davon ausgehen, dass der oder die Einbrecher einen Schlüssel verwendet haben, um in die Kirche zu gelangen. Es sei denn, die Tür war nicht verriegelt.«
Die Frau fuhr auf. »Das ist unmöglich«, sagte sie schrill. »Mein Mann geht jeden Abend nach acht noch einmal zur Kirche und macht einen Rundgang. Er
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