Die Bruderschaft Christi
verheimlicht. Die übrigen Schriften sind ebenfalls öffentlich. Nur sie widersprachen sich zum Teil, oder es waren lediglich unzureichende Auszüge aus den bestehenden Evangelien ohne jeglichen Offenbarungscharakter.«
»Was ist mit dem Thomasevangelium?«, fragte Chaim Raful. »Der Mensch ist, wenn auch ›trunken‹, das heißt unwissend, doch göttlichen Ursprungs, er ist nach göttlichem Bild geschaffen. Wir sind also alle Kinder Gottes, so wie Jeschua. Und bei Thomas finden wir keine Auferstehung. Doch wir finden Worte, wir finden Sprüche, die uns sehr stark an Qumran erinnern. Aber Thomas passte nicht ins Bild, das der Konvent von Triest vor 460 Jahren als endgültigen Kanon des Neuen Testaments der römisch-katholischen Kirche festlegte. Er wurde einfach vergessen. Doch der Mensch irrt zuweilen. Ist das nicht auch aus den heiligen Schriften zu entnehmen?«
»Sind das nicht Fragen, die Sie dem Papst stellen sollten und nicht mir?«
»Geht uns die Wahrheit nicht alle an?«, erwiderte Chaim Raful.
»Wer sagt uns denn, was die Wahrheit ist, wenn wir bislang nur Bruchstücke davon gefunden haben? Wir haben ein paar kleine Tropfen eines riesigen Ozeans an Überlieferungen entdeckt. Und nun versuchen wir, jeder für sich, sein eigenes Bild zu schaffen. Und die Lücken füllen wir mit Thesen, Annahmen und Deutungen, die nichts Wissenschaftliches an sich haben, sondern einzig und alleine Ursprung unserer eigenen Phantasien sind. Soll das am Ende die Wahrheit sein, ist das Ihr Ernst, Herr Kollege?«
Raful nahm die Hand von Jonathan Hawkes Schulter. Mit ernster Miene sagte er: »Ich kenne die Wahrheit, und sie ist gefährlich, denn sie zerstört die Macht von einigen Mächtigen auf dieser Welt.«
Jonathan Hawke schüttelte den Kopf. Chaim Raful war ein hoffnungsloser Fall.
»Sie tun mir leid, Professor«, antwortete Jonathan Hawke nach einem Augenblick des Schweigens. »Nehmen Sie Ihren Fund und werden Sie glücklich damit. Aber lassen Sie mich aus dem Spiel. Ich bin hier, um eine römische Garnison zu finden, und nicht, um mir weiter Ihre verbohrten Hirngespinste anzuhören.«
Raful blickte Jonathan Hawke mit starrer Miene ins Gesicht, schließlich lächelte er gekünstelt und streckte Hawke seine Hand entgegen.
»Abgemacht«, sagte er geheimnisvoll. »Sie suchen die Garnison, und ich behalte den Kreuzritter und alles, was sein Grab enthält. Und ich werde Ihnen nicht mehr zur Last fallen. Im Gegenteil, ich werde die Arbeiten nach wie vor unterstützen.«
Jonathan Hawke ergriff zögerlich die Hand des Professors. »Nehmen Sie den Ritter, ich habe daran kein Interesse, und ich werde keine Ihrer Thesen öffentlich unterstützen, dessen müssen Sie sich klar sein.«
Professor Chaim Raful nickte. »Dessen bin ich mir heute klar geworden, werter Freund.«
10
Rom, Palazzo del Sant’ Uffizio …
Kardinalpräfekt Lukasec war ungehalten. Pater Leonardo setzte sich auf das Ledersofa unterhalb des Fensters. Im riesigen Besprechungssaal des Palazzos, in dem das Sanctum Officium residierte, war es überaus kühl. Die Fenster waren geschlossen und abgedunkelt. Kardinalpräfekt Lukasec trug eine schwarze Soutane, den scharlachroten Pileolus, und um seinen dicken Bauch wand sich das rote Zingulum. Er stand vor dem Fenster und hielt seine weißen, faltigen Hände vor seinem Körper verschränkt.
»Sind Sie sich eigentlich im Klaren darüber, welche Macht Kardinal Borghese besitzt?«, fragte der Kardinalpräfekt verärgert. »Er war schon in Amt und Würden, mein Sohn, da haben Sie noch erste Gehübungen in einem Laufstall gemacht. Wenn er sich in einer dringenden Angelegenheit an unser Amt wendet, dann erwarte ich, umgehend darüber informiert zu werden. Kardinal Borghese wird als der kommende Mann im Vatikan gehandelt. Nicht nur die Kirche ist ihm zu großem Dank verpflichtet. Sein Einfluss reicht weit hinein in Politik und Wirtschaft. Er hat verdient, von Ihnen ernst genommen zu werden. Stattdessen tun Sie seine Sorgen und Ängste mit einem einfachen Lächeln ab und behandeln ihn wie einen Novizen.«
Pater Leonardo hob abwehrend die Hand. »Das stimmt nicht, ich habe seine Beweggründe durchaus ernst genommen.«
»Haben Sie auch entsprechend gehandelt?«, schnitt ihm der Kardinalpräfekt das Wort ab. »Ich verstehe diese jungen Leute nicht mehr. Kommen von irgendeiner Universität, durchlaufen ein Aufbauprogramm und glauben dann, alles zu wissen und nichts mehr ernst nehmen zu müssen.«
»Ich dachte …«,
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