Die Bruderschaft der Runen
bis sich die Umrisse der Rune auf dem Papier abzuzeichnen begannen. Danach suchte er, beflügelt durch seinen Fund, auch die anderen Seiten des Sarkophags nach verborgenen Zeichen ab – und fand sie zuhauf.
Immer wieder traten aus dem Gewirr der Darstellung verschlungene Symbole zu Tage, gerade so, als wären sie vor ein paar Augenblicken noch nicht da gewesen. Im Kerzenschein untersuchten Sir Walter und Quentin den Sarkophag. Je länger sie auf die Darstellungen starrten, desto mehr Zeichen schälten sich aus dem Gewirr und wurden sichtbar. Nach etwa zwei Stunden hatten sie zwölf verschiedene Zeichen ausgemacht, die Quentin fleißig kopierte.
»Ich denke, das sind alle«, meinte Sir Walter.
»Wie kommst du darauf, Onkel?«
»Weil es dreizehn Zeichen sind, und dieser Zahl kam in der Runenkunde eine besondere Bedeutung zu.«
»Dreizehn? Wir haben nur zwölf Runen gefunden.«
»Du vergisst die Schwertrune auf der Deckplatte. Vielleicht hat Professor Gainswick ihre Existenz tatsächlich nur aus der der anderen zwölf Runen abgeleitet. Offenbar hatte er die Zeichen ebenfalls entdeckt.«
»Natürlich.« Quentin nickte. »Deshalb auch der Hinweis auf Abbotsford. Der Professor wollte uns damit sagen, dass die Rune auf der Wandtafel nicht die Signatur eines Handwerkers, sondern das Werk der Sektierer ist.«
»Vielleicht. Was allerdings auch bedeuten würde, dass die Bruderschaft damals großen Einfluss besessen haben muss, wenn sie Agenten am Hof des Königs hatte. Vermutungen bringen uns jedenfalls nicht weiter. Wir werden zurückkehren nach Edinburgh und versuchen, diese Zeichen zu übersetzen. Wenn es tatsächlich eine geheime Botschaft ist, werden wir alles tun, um sie zu entschlüsseln. Vielleicht wird sich uns das Geheimnis schon bald offenbaren.«
»Das befürchte ich«, murmelte Quentin, aber so leise, dass sein Onkel ihn nicht hörte.
5.
U nd Ihr seid Euch ganz sicher, dass Ihr all das wirklich erlebt habt? Dass es nicht nur ein böser Albtraum gewesen ist, der Euch heimgesucht hat?«
»Es war wirklich«, versicherte Gwynneth Ruthven. Allein die Erinnerung an die Ereignisse, die sich in den düsteren Kerkern der Burg abgespielt hatten, ließ sie erschaudern. »So wirklich wie Ihr und ich, Pater.«
Pater Dougal, ein junger Prämonstratensermönch, den sein Kloster nach Ruthven geschickt hatte, damit er dem Burgherrn und den seinen geistlichen Beistand leisten sollte, blickte Gwynneth prüfend an. Es war ihm anzusehen, dass der Bericht der jungen Frau ihn schockiert hatte. Duncan Ruthven sollte Mitglied einer heidnischen Bruderschaft sein? Noch dazu von einer, die sich die Vertreibung der christlichen Religion und die Wiedereinführung der heidnischen Götter zum Ziel gesetzt hatte?
Dougal war kein Narr. Er wusste wohl, dass mit der Einführung der christlichen Lehre das Heidentum längst nicht besiegt war. Obwohl die meisten Clansfürsten sich und ihre Familien hatten bekehren lassen, hielt sich in vielen Gegenden hartnäckig der Aberglaube an Naturgeister, an schwarze und weiße Magie sowie an Runenzeichen, denen man geheimnisvolle Bedeutung beimaß. Auch Dougal hatte einst daran geglaubt, und obwohl er inzwischen zum wahren Glauben gefunden hatte, gab es noch immer einen Teil von ihm, der sich vor ihrer Macht fürchtete. Druiden, Geheimbünde und verschlungene Zeichen – all diese Dinge machten ihm Angst. Und wie er nun erfahren musste, wirkten sie in nächster Nähe.
»Wenn Ihr Recht habt, Lady Gwynneth, dann …«
»Welchen Grund sollte ich haben, Euch zu belügen? Ich bin die Schwester des Fürsten. Könnt Ihr meinen Worten nicht vertrauen?«
»Das würde ich gern«, versicherte der Mönch und senkte beschämt den Blick. »Aber ich will ganz offen mit Euch sein. Ihr wurdet in Gesellschaft einer Person gesehen, die Eure Worte zumindest zweifelhaft macht. Ich will nicht sagen, dass ich Euch nicht glaube, aber die Tatsache, dass Ihr Euch selbst mit jenen Dingen beschäftigt, deren Ihr Duncan Ruthven bezichtigt, mindert meine Zweifel nicht.«
»Wovon sprecht Ihr?«, fragte Gwynn, und dann wurde es ihr klar: die alte Kala. Man musste sie zusammen gesehen haben, und offenbar hatte sich schnell herumgesprochen, mit wem sie sich außerhalb der Burgmauern traf.
»Ich weiß, was man über jene Frau sagt, Pater«, erklärte Gwynn deshalb, »aber ich kann Euch versichern, dass nichts davon wahr ist. Auch sie ist in den Geheimnissen der Runen bewandert und weiß von Dingen, deren Kenntnis anderen
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