Die Bruderschaft der Runen
deshalb wirst du immer einen festen Platz in meinem Herzen haben.«
»Auch wenn ich mit geschlossenen Augen durchs Leben wandle?«
»Auch dann«, versicherte Sir Walter und musste lächeln. »Außerdem solltest du nicht vergessen, dass du es gewesen bist, der die Schwertrune gesehen hat. Ohne deinen Hinweis wären wir dem Geheimnis nicht auf der Spur.«
»Vermutlich gibt es gar kein Geheimnis. Inspector Dellard sagte, dass meine Entdeckung nichts mit dem Mord an Jonathan und mit dem Brand in der Bibliothek zu tun habe.«
»Das sagte er«, räumte Sir Walter ein. »Aber während er es sagte, leuchteten seine Augen auf eine Weise, die mir nicht recht gefallen wollte. Wüsste ich nicht, dass Inspector Dellard ein verlässlicher und loyaler Staatsdiener ist, würde ich sagen, dass er uns belügt.«
»Dass er uns belügt?« Quentin wurde schlagartig puterrot.
»Dass er uns zumindest etwas verschweigt«, beschwichtigte Sir Walter ein wenig. »In beiden Fällen ist es sinnvoll, wenn wir unsere Ermittlungen auf eigene Faust fortsetzen. Inspector Dellard scheint an einer Zusammenarbeit nicht gelegen zu sein.«
»Und wenn er Recht hat mit seiner Warnung? Wenn es tatsächlich gefährlich ist, weitere Nachforschungen anzustellen?«
Der Blick, den Sir Walter seinem jungen Schützling zuwarf, enthielt einen Anflug von jugendlicher Unbekümmertheit und Abenteuerlust, die der Herr von Abbotsford bisweilen an den Tag zu legen pflegte. »Dann, mein lieber Neffe«, erwiderte er voll Überzeugung, »werden wir uns zu wehren wissen. Einstweilen aber bin ich viel eher geneigt anzunehmen, dass unser werter Inspector uns lediglich einschüchtern wollte, um bei den Ermittlungen freie Hand zu haben und sich nicht von einem starrsinnigen alten Schotten in die Karten sehen zu lassen.«
»Meinst du?«
»Wie auch immer, er wird damit keinen Erfolg haben«, sagte Sir Walter lächelnd, während er sich wieder in Bewegung setzte und die schmale Hauptstraße von Kelso entlangging.
»Was werden wir jetzt unternehmen?«, fragte Quentin.
»Wir werden zu Abt Andrew gehen und ihn um eine Unterredung bitten. Möglicherweise weiß er mit dem Runenzeichen mehr anzufangen als Dellard – immerhin wurde es in seiner Bibliothek gefunden. Und vielleicht weiß er unsere Kooperation auch mehr zu schätzen als der Inspector.«
»Du bist noch immer überzeugt davon, dass die Rune der Schlüssel zu allem ist?«
»Das bin ich, mein Junge, auch wenn ich dir nicht genau sagen kann, weshalb es sich so verhält. Zum einen treffen hier für meinen Geschmack zu viele Zufälle aufeinander; zum anderen habe ich das untrügliche Gefühl, dass noch viel mehr an der Sache dran ist, als es bislang den Anschein hat.«
Quentin wagte nicht, noch weitere Fragen zu stellen. Die ganze Angelegenheit, von Jonathans Tod über die Ereignisse in der Bibliothek bis hin zur Entdeckung der Schwertrune, war ihm ohnehin schon unheimlich genug und versetzte sein junges Herz in Aufregung. Ein – wenn auch kleiner – Teil von ihm hätte nichts dagegen gehabt, wenn sein Onkel ihn zurückgeschickt hätte nach Edinburgh. Ein anderer Teil jedoch – und Sir Walter hätte wohl behauptet, dass sich hier das Erbe der Familie Scott bemerkbar machte – drängte ihn dazu, bei seinem Onkel zu bleiben und ihm bei den Ermittlungen zur Hand zu gehen. Eine denkwürdige Mischung aus Furcht und Abenteuerlust machte sich in ihm breit und sorgte dafür, dass sein Magen sich anfühlte, als hätte sich ein Bienenschwarm darin eingenistet.
Sie gingen die Hauptstraße hinab bis zur Kirche, an die sich das Aedificium des kleinen Konvents anschloss.
Da nur wenige Prämonstratenser in Kelso lebten, war ihre Bleibe unscheinbar und bescheiden. Jeder der Ordensbrüder bewohnte eine enge, karg möblierte Zelle; für Versammlungen gab es einen Kapitelsaal, neben dem sich das Refektorium befand, in dem die Mönche zu speisen pflegten. Ein kleiner Klostergarten, in dem Gemüse, Kartoffeln und Kräuter angebaut wurden, versorgte sie mit Grundnahrungsmitteln; außerdem ließ der Herzog von Roxburghe regelmäßig ein Rind oder Schwein für sie schlachten.
Obwohl Quentin schon des Öfteren in der Bibliothek gewesen war, war dies sein erster Besuch im Kloster selbst. Seltsame Ehrfurcht ergriff ihn, als sie an die schwere Eingangspforte klopften. Geräuschvoll schwang die Tür auf, und das verkniffene Gesicht eines kleinwüchsigen Mönchs erschien, den Quentin als Bruder Patrick kannte.
Sir Walter bat
Weitere Kostenlose Bücher