Die Bruderschaft der Runen
in Ruhe abwarten werde, so sind Sie einem schweren Irrtum erlegen, Inspector. Sollte meine Familie tatsächlich in Gefahr schweben, wie Sie behaupten, dann werde ich ganz sicher nicht die Hände in den Schoß legen und andere für meine Sicherheit sorgen lassen, sondern ich werde auch weiter alles daransetzen, dass Jonathans Mörder dingfest gemacht wird. Folgen Sie Ihren Hinweisen, Inspector, ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei. Aber versuchen Sie nicht, mich davon abzuhalten, meinen eigenen Ermittlungen nachzugehen. Guten Tag.«
Mit diesen Worten verließ Scott das Büro des Sheriffs. Quentin, der sich unter Dellards Blicken gewunden hatte wie ein Aal, folgte ihm auf dem Fuß. Geräuschvoll fiel die Tür hinter den beiden ins Schloss.
Sekundenlang stand Dellard regungslos hinter seinem Schreibtisch. Dann erst setzte er sich wieder und griff über die polierte Tischplatte nach dem Kästchen, in dem Slocombe seinen indischen Tabak aufbewahrte. Ein zufriedenes Lächeln umspielte dabei seine strengen Züge.
In seinen Kreisen war Dellard dafür bekannt, ein brillanter Taktiker zu sein. Es gehörte zu seinen Stärken, Menschen zu beeinflussen und sie das tun zu lassen, was er wollte.
Bisweilen musste man sie dazu lediglich ermuntern. Dann wieder – wie im Fall dieser eigensinnigen Schotten – brauchte man ihnen nur etwas zu verbieten, um sicherzugehen, dass sie genau das tun würden, was man von ihnen wollte.
Dellards Pläne entwickelten sich gemäß seinen Wünschen.
»Verzeih, Onkel«, sagte Quentin und hatte Mühe, mit dem Tempo mitzuhalten, das Sir Walter an diesem Morgen vorlegte. »Aber war es klug, Dellard so offen zu brüskieren?«
»Darum geht es nicht, mein Junge«, erwiderte Scott, den das Gespräch mit dem Inspector sichtlich aufgebracht hatte. »Hier war ein offenes Wort gefragt. Immerhin weiß Mister Dellard jetzt, woran er mit uns ist.«
»Und wenn er Recht hatte? Wenn wir uns tatsächlich in Gefahr befinden?«
»Eine Gefahr wurde noch nie dadurch aus der Welt geschafft, dass man den Kopf in den Sand steckt und so tut, als existierte sie nicht«, sagte Sir Walter bestimmt. »Dellard scheint etwas zu wissen, aber er will es uns nicht sagen. Das muss ich respektieren. In diesem Fall werden wir eben selbst herausfinden müssen, was es mit dieser Sache auf sich hat. Hast du Dellards Gesicht gesehen, als sein Blick auf die Rune fiel?«
»Äh – nein, Onkel.«
»Beobachten, Quentin! Du musst beobachten! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ein großer Schriftsteller nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben wandeln darf?! In der Gabe des Beobachtens liegt das größte Geheimnis unserer Zunft.«
»Ich verstehe. Natürlich, Onkel«, sagte Quentin kleinlaut und ließ eingeschüchtert den Kopf sinken.
Sir Walter bemerkte es, und er schalt sich selbst dafür, den Jungen so angeherrscht zu haben. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass es nicht Quentin war, dem sein Groll galt – und auch nicht Inspector Dellard. Es war die gesamte Lage, die an seinen Nerven nagte und ihn aufbrausend und rechthaberisch werden ließ – das Gefühl, sich in einem Wald von Fragezeichen verlaufen zu haben und keinen Weg nach draußen zu finden …
»Entschuldige, mein Junge«, sagte er, und seine vor Ärger verhärteten Züge wurden wieder milder. »Es ist nicht deine Schuld. In Wahrheit …«
»Du vermisst Jonathan, nicht wahr, Onkel?«, fragte Quentin.
»Das auch.«
»Er wäre dir ohne Frage eine größere Hilfe als ich. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich wäre in jener Nacht von der Galerie gestoßen worden, dann wäre Jonathan jetzt bei dir und …«
»Halt.« Sir Walter blieb stehen und fasste seinen Neffen an der Schulter. »Ich will hoffen, dass du das nicht ernst meinst.«
»Warum nicht?«, erwiderte Quentin elend. »Jonathan war dein bester Student. Ich kann sehen, wie sein Tod dich schmerzt. Ich hingegen bereite dir Tag für Tag nur Ärger und Mühe. Vielleicht wäre es besser, wenn du mich nach Edinburgh zurückschicken würdest.«
»Willst du das denn?«
Betreten blickte Quentin zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Dann werde ich dich auch nicht zurückschicken«, versprach Sir Walter entschlossen.
»Aber sagtest du nicht …?«
»Es mag wohl sein, dass Jonathan der talentierteste Student war, der je in meinen Diensten stand, und ich gebe zu, dass sein Tod in meinem Leben eine große Leere hinterlassen hat. Aber du, Quentin, bist mein Neffe! Schon
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