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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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mögen mir meine Frage verzeihen, aber hat man Sie denn noch nicht herumgeführt?«
    »Nein.« Mary schüttelte den Kopf. »Ich bin gestern erst angekommen.«
    Samuel schien erleichtert. »Jene Tür«, sagte er dann, »führt zum Westturm. Aber es ist nicht gestattet, sie zu öffnen. Der Laird hat es verboten.«
    »Weshalb?«, fragte Mary, während sie langsam weitergingen.
    »Mylady sollten mir nicht solche Fragen stellen. Ich bin nur ein einfacher Diener und weiß nicht viel.«
    Mary lächelte. »Jedenfalls weißt du sehr viel mehr als ich, Samuel. Ich bin fremd hier und für jede Auskunft dankbar.«
    »Dennoch bitte ich Sie, Mylady, nicht mich zu fragen, sondern jemand anderen. Jemanden, der Ihr Vertrauen verdient.«
    Es war offensichtlich, dass der Diener nicht sprechen wollte, und Mary wollte ihn auch nicht dazu zwingen. Sie schwieg während des restlichen Wegs, der über eine steinerne Wendeltreppe in die unteren Etagen führte, wo sich der Saal und die Speisezimmer der Burg befanden.
    Der Raum, in dem das Frühstück eingenommen wurde, war länglich und besaß eine hohe, von schweren Balken getragene Decke, von der ein großer eiserner Kerzenleuchter hing. Durch das hohe Fenster an der Stirnseite fiel fahles Morgenlicht, und man konnte die Burgmauern und dahinter die mattgrünen Hügel der Highlands sehen, die sich noch ebenso in Nebel hüllten wie am Tag zuvor. Im Kamin loderte ein zaghaftes Feuer – doch die Eiseskälte, die Mary entgegenschlug, als sie den Raum betrat, konnte es nicht vertreiben.
    An der langen Tafel, die die Mitte des Salons einnahm, saßen zwei Personen. Die eine von ihnen kannte Mary bereits: Es war Eleonore of Ruthven, die Herrin der Burg. Die andere Person war Malcolm, seines Zeichens Laird of Ruthven – und Marys zukünftiger Ehemann.
    Mary wusste nicht, was sie sagen sollte, als sie den Mann, an dessen Seite sie ihr Leben verbringen sollte, zum ersten Mal sah.
    Malcolm war in ihrem Alter; sein kurz geschnittenes Haar war pechschwarz und an den Schläfen trotz seiner Jugend bereits etwas zurückgewichen. Seine Haut war ebenso blass wie die seiner Mutter; überhaupt schien der Laird die asketische Erscheinung Eleonores geerbt zu haben: der gleiche schmallippige Mund, die gleichen hohen Wangen, die gleichen tief liegenden Augen. Selbst den forschenden, unnachgiebigen Blick hatten Mutter und Sohn gemeinsam – Mary begegnete er in doppelter Ausführung, als sie den Frühstückssalon betrat.
    »Guten Morgen, mein Kind«, begrüßte Eleonore sie mit wohlwollendem Lächeln. »Wie du siehst, habe ich dir nicht zu viel versprochen. Dies ist Malcolm, der Laird of Ruthven und mein Sohn – dein zukünftiger Ehemann.«
    Mary senkte das Haupt und beugte die Knie, wie die Etikette es verlangte.
    »Was habe ich dir gesagt, mein Sohn?«, hörte sie Eleonore fragen. »Ist sie nicht all das, was ich dir versprochen habe? Eine vollendete junge Dame und eine einzigartige Schönheit?«
    »Das ist sie in der Tat.« Malcolm erhob sich und kam auf Mary zu; er reichte ihr die Hand zur Begrüßung. Endlich konnten sie einander in die Augen schauen – und innerlich erschrak Mary darüber, dass es die Augen eines völlig Fremden waren, in die sie blickte.
    Nicht, dass sie etwas anderes erwartet hätte, schließlich sah sie Malcolm of Ruthven heute zum ersten Mal. Aber ein geringer, hoffnungslos romantischer Teil von ihr (möglicherweise der, der Walter Scotts Bücher so sehr liebte) hatte gehofft, dass sie in Malcolm of Ruthvens Blick wenigstens einen Hauch von Vertrautheit erkennen würde, eine leise Ahnung der Zuneigung, die sie vielleicht eines Tages füreinander empfinden würden.
    Aber da war nichts.
    Was Mary in den stahlblauen Augen ihres zukünftigen Ehemannes sah, war vor allem Kälte – auch wenn er sich Mühe gab, diesen Eindruck mit Worten zu mildern.
    »Ich muss sagen«, bemerkte Malcolm mit leisem Lächeln, »dass meine Mutter nicht übertrieben hat. Sie sind in der Tat eine Schönheit, Mary. Schöner, als ich es mir je zu erträumen wagte.«
    »Sie sind sehr großzügig mit Ihrem Lob, verehrter Laird«, erwiderte Mary beschämt. »Natürlich war es meine bescheidene Hoffnung, dass ich in Ihren Augen Gefallen finden würde. Aber nun, da ich weiß, dass es so ist, verspüre ich große Erleichterung, denn ich fürchtete, Ihren Erwartungen nicht zu entsprechen.«
    Malcolm lächelte dünn. »Dann sind wir schon zwei, die diese Befürchtung hatten«, sagte er. »Meine Mutter pflegt derart mit

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