Die Bruderschaft der Runen
mittelalterliche Jagdszenen zeigten. Zwei hölzerne, mit Schnitzereien verzierte Schränke bildeten die Einrichtung, dazu eine Kommode mit einem großen Spiegel. Auf einem aus Eichenholz gedrechselten Ständer hing ein Kleid aus grausilbernem Damast, das ihr gänzlich unbekannt vorkam – bis sie sich daran erinnerte, dass sie dieses Kleid zum Dinner getragen hatte. Es gehörte nicht wirklich ihr, sondern war eine Leihgabe Eleonore of Ruthvens, die darauf bestanden hatte, sie einzukleiden, bis sie selbst neue Kleider besäße.
Mary konnte das Blut in ihren Adern fühlen. Unruhig pulste es durch ihren Körper, als hätte sie etwas in schreckliche Aufregung versetzt.
Dann, als würde ein Vorhang Stück für Stück beiseite gezogen, kehrte die Erinnerung an den Traum der vergangenen Nacht zurück. Die Traumbilder waren so lebhaft und intensiv, als wären sie Wirklichkeit. Mary erinnerte sich an die junge Frau – Gwynn – und ihren Bruder Duncan, als hätten sie eben noch vor ihr gestanden. Als wäre sie tatsächlich Zeuge der Unterhaltung gewesen, die die beiden geführt hatten.
Und das war noch nicht alles.
Mary erinnerte sich auch an die Gefühle der jungen Frau, die sie gespürt hatte, als wären es ihre eigenen: zunächst die vage Hoffnung, der Vater werde bald heimkehren, dann ihre Enttäuschung, ihre Trauer und schließlich, als sie ihren Bruder von Lüge und Verrat hatte sprechen hören, das Entsetzen und die dumpfe Ahnung von drohendem Unheil.
Seltsam … Einen Traum wie diesen hatte Mary noch nie zuvor gehabt. Obwohl sie lebhaft träumte und sich oft daran erinnern konnte, hatte der Schlaf ihr noch niemals Bilder vorgegaukelt, die so wirklichkeitsnah gewesen waren. Sie hatte den rauen Wind spüren können, der um die Mauern der Burg gestrichen war, den erdigen Geruch der Highlands. Und noch immer hatte sie den Eindruck, Gwynneth und ihrem Bruder tatsächlich begegnet zu sein.
Mary lachte über ihre eigene Unvernunft – natürlich war das völlig unmöglich. Wie sollten Gestalten aus einem Traum wirklich sein? All das musste sie sich eingebildet haben. Was sie gesehen hatte, war ein Traumbild gewesen, dessen Eindringlichkeit sich sehr einfach erklären ließ: Noch am Tag zuvor hatte Mary in Sir Walters Geschichtsbuch von William Wallace und dem Freiheitskampf der Schotten gelesen. Und hatte sie nicht während der Kutschfahrt nach Ruthven das Kapitel über die Schlacht von Sterling durchgearbeitet? Hatte sie nicht gelesen, wie zahlreiche Clansherren den Tod gefunden hatten und dies zu Missstimmigkeiten im schottischen Adel geführt hatte? Dass nicht wenige geglaubt hatten, Wallace strebe selbst nach der Krone und wolle die Claris beherrschen?
Natürlich!
Obwohl Mary häufig Bücher las und sich gern in den Welten verlor, die die Dichter mit schönen Worten heraufbeschworen, war sie Vernunftmensch genug, um zu wissen, dass es für alles eine rationale Erklärung geben musste. In diesem Fall lag sie auf der Hand: Der rätselhafte Traum war das Ergebnis ihrer Beschäftigung mit der schottischen Geschichte gewesen. Dass er so überaus eindringlich gewesen war, führte Mary auf die Erlebnisse vom Vortag zurück, auf ihre Ankunft auf Burg Ruthven und den kühlen Empfang durch Eleonore.
Vielleicht, sagte sie sich, war sie am gestrigen Abend aber auch nur zu müde gewesen, um ihre neue Heimat zu würdigen. Ein neuer Tag war angebrochen, und vielleicht sah heute schon alles anders aus. Immerhin würde sie bald zum ersten Mal jenem Mann begegnen, an dessen Seite sie den Rest ihres Lebens verbringen sollte.
Der Gedanke erschreckte sie nicht mehr so, wie er es noch vor ein paar Tagen getan hatte. Als hätte sich etwas von der Majestät und Gelassenheit, die von diesem weiten Land und seinen Bewohnern ausging, auf sie übertragen, fühlte Mary plötzlich eine tiefe innere Ruhe. Sie schlug die Decke zurück, schwang sich aus dem Bett und ging auf nackten Füßen hinüber zum Fenster.
Der steinerne Boden war kalt, aber sie merkte es kaum; eine innere Wärme erfüllte sie, die noch von dem seltsamen Traum herrühren mochte. Das unerklärliche Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein, erfüllte Mary für einen Augenblick mit tiefem inneren Frieden – so wie am Grenzpunkt von Carter Bar, als sie auf die Wiesen und Wälder der Lowlands geblickt hatte.
Das Gefühl schwand in dem Augenblick, als sie aus dem Fenster blickte und die grauen Mauern und Türme von Burg Ruthven sah, die den blauen Himmel und die
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