Die Bruderschaft der Runen
nicht gesagt, lieber Neffe.«
»Aber glaubst du denn nicht, dass Dellard Recht hat?«
»Und ob ich das glaube, mein Junge. Ich glaube es, weil ich es an jedem einzelnen Tag erlebe. Es stimmt: Jonathans Tod und die darauf folgenden Ereignisse beschäftigen mich bis hinein in meine Träume. Und am Morgen sind sie das Erste, woran ich denke.«
»Wäre es dann nicht besser, die Sache zu vergessen?«
»Das kann ich nicht, Quentin. Möglicherweise wäre ich noch vor ein paar Tagen dazu bereit gewesen, aber jetzt nicht mehr. Nicht, nachdem diese Leute mein Anwesen überfallen haben. Damit haben sie eine Grenze überschritten, die sie nicht hätten überschreiten sollen.«
»Dann … dann werden wir die Sache also nicht dem Inspector überlassen?«
»Im Gegenteil. Dellard mag tun, was er für richtig hält, aber auch wir werden weitere Nachforschungen anstellen.«
»Wo, Onkel?«
»Dort, wo wir bereits zweimal Informationen verlangt haben und man sie uns vorenthalten hat – im Kloster zu Kelso. Dem Inspector gegenüber scheint Vater Andrew ein wenig gesprächiger gewesen zu sein, als es bei uns der Fall gewesen ist. Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass er weiß, was es mit dem Runenzeichen auf sich hat. Dellard hat von einer heidnischen Sekte gesprochen – möglicherweise ist es das, was hinter allem steckt. Ich brauche Gewissheit.«
»Ich verstehe, Onkel.« Quentin nickte zögernd, und für einen winzigen Augenblick überkam Sir Walters Neffen ein schrecklicher Gedanke.
Was, wenn es bereits begonnen hatte? Wenn sich Dellards Worte bereits bewahrheiteten? Wenn Misstrauen und Argwohn bereits dabei waren, Sir Walters Innerstes zu zerfressen? Wenn der Verfolgungswahn ihn gepackt hatte? Immerhin war der Herr von Abbotsford nahe daran, sich auf die Jagd nach einer ominösen Sekte zu machen. War das normal für einen Mann, dessen Leidenschaft die Wissenschaft und dessen ganzer Stolz seine Vernunftmäßigkeit war?
Quentin schob den Gedanken sogleich wieder beiseite. Natürlich, Jonathans Tod hatte seinen Onkel schwer erschüttert, aber das bedeutete nicht, dass er nicht wusste, was er tat. Schon einen Augenblick später schämte sich Quentin für seine Gedanken und hatte das Gefühl, etwas wieder gutmachen zu müssen.
»Wie kann ich dir helfen, Onkel?«, fragte er deshalb.
»Indem du für mich nach Kelso gehst, Neffe.«
»Nach Kelso?«
Sir Walter nickte. »Ich werde Abt Andrew einen Brief schreiben, in dem ich ihn bitten werde, dich in den Büchern recherchieren zu lassen, die aus der Bibliothek geborgen werden konnten. Ich werde ihm mitteilen, dass du Jonathans Nachfolge angetreten hast und für mich Fakten für einen neuen Roman zusammentragen sollst.«
»Du willst einen neuen Roman schreiben, Onkel? Ist der alte denn schon fertig?«
»Keineswegs, und es ist auch nur ein Vorwand. Eine List, zu der wir greifen müssen, weil uns die Wahrheit, so fürchte ich, vorenthalten wird. In Wirklichkeit wirst du die Gelegenheit nutzen, um Abt Andrews Bücherei nach anderen Hinweisen zu durchforsten, mein Junge – nach Hinweisen auf die Schwertrune und die rätselhafte Sekte, von der Dellard gesprochen hat.«
Quentins Mund blieb vor Staunen weit offen stehen. »Ich soll spionieren, Onkel? In einem Kloster?«
»Nur die Vorteile ein wenig ausgleichen«, drückte Sir Walter es diplomatischer aus. »Abt Andrew und Inspector Dellard spielen nicht mit offenen Karten, und sie sollten nicht erwarten, dass wir das einfach hinnehmen. Offensichtlich hüten sie ein Geheimnis, und nach allem, was vorgefallen ist, denke ich, dass sie ihr Wissen mit uns teilen sollten. Schließlich ist nicht ihr Leben bedroht, sondern unseres, und es geht nicht um ihr Haus und Heim, sondern um meins. Was immer notwendig sein wird, um es zu schützen, das werde ich tun. Wirst du mir dabei helfen?«
Quentin brauchte nicht zu überlegen – auch wenn der Gedanke, sich als Spion bei der Bruderschaft von Kelso zu betätigen, ihn nicht gerade begeisterte. »Natürlich, Onkel«, versicherte er. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Sehr gut, mein Junge.« Sir Walter lächelte. »Abt Andrew und Dellard sollten wissen, dass sich die Wahrheit niemals lange verbergen lässt. Früher oder später wird sie ans Licht kommen.«
3.
M it leisem Schmatzen lösten sich die Hufe der Pferde aus dem Morast, der die schmale Straße überzog. Die Räder der Kutsche wälzten sich langsam über den zähen Grund.
Es hatte zu regnen begonnen, aber Malcolm of
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