Die Bruderschaft des Feuers
war die Sicht perfekt, obwohl das weißliche Licht in den Augen schmerzte.
Ehe Gerardo an die Baustelle herantrat, blieb er stehen, um sich aus einer gewissen Entfernung nach Michele da Castenaso umzublicken. Ihm graute vor der Vorstellung, Abdul wiederzusehen, und er hoffte von ganzem Herzen, dass der Sarazene irgendwo anders beschäftigt war.
Die Handwerker arbeiteten schweigend, und die Geräusche von fallenden Steinen oder klopfenden Hämmern drangen wie gedämpft durch den Nebel. Wenn sie knappe Bemerkungen austauschten, erschienen kleine Atemwölkchen vor ihren Mündern, die sich nur langsam auflösten.
Die Arbeiten wurden zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk des Turmes ausgeführt, wo ein Stück der beeindruckend dicken Stadtmauer eingestürzt war. Hinter der äußeren Ziegelwand folgte eine mindestens zwei Arm breite Schicht von aufgeschütteten Flusskieseln und Kalk, danach eine weitere Backsteinmauer. Diese Art des Mauerwerks wurde »Zweischalenmauerwerk« genannt und für die meisten Befestigungsbauwerke verwendet. Ein Holzgerüst reichte bis zu dem Tragbalken aus Selenit unterhalb der eingestürzten Mauer, und die Arbeiter hatten zwischen dem Erdboden und dem oberen Ende des Gerüsts ein Brett schräg hingestellt, auf dem sie mithilfe einer Winde aus Seilen und Rollen einen kleinen Karren voll mit Baumaterial bis zum Arbeitsplatz hochziehen konnten.
Da Gerardo Michele da Castenaso nirgendwo ausmachen konnte, näherte er sich den zwei Männern, die die Winde betätigten, und fragte sie, wo er ihn finden könnte.
Einer der beiden, ein Riese, der trotz der Kälte nur eine ärmellose Kutte, zerrissene Beinlinge und auf dem Kopf ein verknotetes Tuch trug, wies mit dem Kinn in eine Richtung, ohne von seiner Arbeit an dem Teil der Konstruktion, der das Seil um die Nabe schlang, abzulassen. Als Gerardo seinem Blick folgte, entdeckte er Abdul, der im Innenhof des Gebäudes gegenüber dem Turm kniete. Er war mit etwas am Boden beschäftigt. Neben ihm saß auf einem hölzernen Stuhl mit Schnitzereien, den ihm vielleicht die Hausherren angeboten hatten, Meister Michele, im üblichen schwarzen Gewand und barhäuptig. Seine erloschenen Augen und die langen weißen Haare verliehen ihm in der gedämpften Nebelstimmung ein gespenstisches Aussehen.
Gerardo näherte sich mit schnellen Schritten und begrüßte ihn, wobei er Abdul den Rücken zuwandte. Er hatte sich geschworen, seine Rechnung mit ihm zu begleichen, aber das hier war weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass der Sarazene mit einer Eisenspitze eine Zeichnung in eine auf dem Boden glatt gestrichene Gipsschicht ritzte. Diese Methode war unter den Maurern weitverbreitet, so sparte man Papier oder Pergament, und vor allem konnte man auf diese Weise Skizzen anfertigen, die weit größer als jedes Blatt waren.
»Ich dachte, es sei zu kalt, um Mauern zu errichten«, sagte er, um eine Unterhaltung zu beginnen. In den Wintermonaten wurde für gewöhnlich nicht gebaut, weil der Kalkmörtel gefror und dadurch die Mauern einstürzen konnten.
Michele da Castenaso nickte. »Das stimmt. Wahrscheinlich wird diese hier in wenigen Monaten wieder in sich zusammenfallen. Aber die Besitzer wollen nicht den ganzen Winter über ein Loch im Turm haben und sind deshalb bereit, zwei Mal Geld auszugeben.«
»Ich verstehe.« Da der alte Mann keine Anstalten machte, den Grund seines Besuchs anzusprechen, beschloss Gerardo, ein wenig direkter zu werden. »Einer Eurer Männer hat mich im Waisenhaus aufgesucht und gesagt, Ihr wolltet mich dringend sprechen, deshalb bin ich sofort gekommen«, erklärte er. »Habt Ihr etwas über den unterirdischen Tempel erfahren?«
»Leider nein«, erwiderte Michele da Castenaso und setzte sich anders hin. »Aber ich habe von der Stadt für Euch die Erlaubnis erhalten, auf den Turm der Asinelli zu steigen.«
Einen Moment lang blieb es so still, dass neben den Geräuschen der Baustelle das Kratzen von Abduls Eisenspitze auf der Gipsfläche zu vernehmen war. Offensichtlich erwartete Meister Michele eine Antwort, doch Gerardo wusste nicht, was er sagen sollte. Er kam fast jeden Tag an Bolognas Zwillingstürmen auf der Piazza di Porta Ravegnana vorbei, dem Turm der Asinelli und dem Garisendaturm. Der Garisendaturm war der niedrigere von beiden und schief, während der Turm der Asinelli der höchste in ganz Bologna war und, seit ihn die Stadt erworben hatte, unterschiedlichen Zwecken diente, darunter
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