Die Bruderschaft des Feuers
dem Austausch von Feuer- und Rauchsignalen mit anderen Wachposten, um die Ankunft von möglichen Feinden zu melden. Was für einen Zweck hatte es, auf einen Turm zu steigen, wenn der gesuchte Tempel sich unter der Erde befand, wie Meister Michele selbst gesagt hatte? Plötzlich begriff er.
»Ihr habt weiter über die Geschichte mit dem Weingarten auf der Dachterrasse nachgedacht«, sagte er enttäuscht. »Seht, ich glaube nicht, dass …«
Michele da Castenaso unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Vom höchsten Punkt der Stadt aus müsste man mit ein wenig Glück ein Haus mit einem Weingarten auf der Dachterrasse ausfindig machen können.«
»In diesem Nebel?«
Einen Augenblick lang dachte Gerardo, dass Meister Michele wegen seiner Blindheit nicht wissen konnte, dass die Sicht momentan äußerst eingeschränkt war.
»Der Nebel ist nur hier am Boden«, erwiderte der alte Mann mit einem wehmütigen Lächeln, vielleicht erinnerte er sich an die Zeit, da er sein Augenlicht noch nicht verloren hatte. »Weiter oben reinigt der Wind die Luft, und die höheren Gebäude ragen aus dem Dunst heraus. Das Haus, das wir suchen, müsste drei Stockwerke haben und könnte daher zu sehen sein. Deswegen sprach ich von ein wenig Glück. Wie dem auch sei, wenn Ihr es heute nicht entdeckt, könntet Ihr es an dem nächsten klaren Tag noch einmal versuchen.«
Gerardo wusste nicht, ob er das wirklich tun wollte. Das Haus zu entdecken, von dem der betrunkene Maurer gesprochen hatte, konnte Michele da Castenaso bei seinen persönlichen Nachforschungen über den ermordeten Maurermeister und seine Lehrlinge weiterhelfen. Aber was konnte ihm das nützen? In diesem Gebäude war ein unterirdischer Raum instand gesetzt worden, und der Eigentümer hatte eine überhöhte Summe dafür bezahlt, dass dieses Geheimnis gewahrt blieb. Das genügte nicht als Beweis, dass sich der Tempel, den sie suchten, auch dort befand.
Andererseits, falls Mondino nicht inzwischen selbst etwas Wichtiges herausgefunden hatte, standen sie bislang mit beinahe leeren Händen da. Da musste man auch jeder noch so schwachen Spur folgen.
»Einverstanden«, sagte er. »Ich werde sofort gehen. Aber wenn ich das Haus ausfindig machen sollte, wie werde ich es unten wiedererkennen, wenn ich einmal den Turm verlassen habe?«
Meister Michele nickte. »Das stimmt. Es muss eine Vermessung vorgenommen werden, und ich nehme an, dass Ihr dazu nicht in der Lage seid. Abdul wird sich darum kümmern. Er wird Euch begleiten.«
Der Sarazene hörte auf zu zeichnen und riss erschrocken Mund und Augen weit auf. »Ich, Meister? Aber ich habe hier zu tun. Die Baustelle …«
»Wenn du architectus werden willst, musst du früher oder später einmal lernen, selbstständig zu arbeiten«, unterbrach ihn Michele da Castenaso. »Das ist eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, wie viel du gelernt hast.«
Der Sarazene war sichtlich erschrocken bei der Vorstellung, allein mit Gerardo zu bleiben. Und der sagte nichts, um ihm die Angst zu nehmen.
»Und die Arbeit hier?«, fragte Abdul. »Wenn ich gehe, wie wollt Ihr dann Anordnungen erteilen?«
»Ist die Zeichnung fertig?«, fragte Michele da Castenaso zurück und zeigte auf die Gipsschicht auf dem Fußboden.
»Ja, ich habe jede Einzelheit wiedergegeben, wie Ihr es mir aufgetragen habt.«
»Dann brauche ich dich nicht mehr. Ich muss den Baumeistern nur sagen, worauf sie achten sollen, und dann werde ich ihnen die entsprechenden Erklärungen mündlich geben. Schließlich geht es nur darum, eine Mauer wiederherzustellen. Wenn wenigstens die Eckkante eingestürzt wäre, dann wäre es interessanter gewesen.«
Abdul betrachtete das zusammengebrochene Mauerwerk und wandte sich wieder seinem Meister zu. »Ich halte das für keine gute Idee.«
Michele da Castenaso versteifte sich. »Ich habe in meinem Leben schon Schwierigeres getan. Sorge dich nicht.«
»Darum geht es nicht. Ich …«
»Keine Widerworte. Nimm die Tasche mit deinen Instrumenten und geh.«
Der Sarazene senkte den Kopf. »Wie Ihr wollt, Meister.«
Er nahm eine Ledertasche, die er auf ein paar Steinen neben dem Stuhl abgelegt hatte, dann verabschiedeten sich die beiden jungen Männer vom Vorsteher der Zunft, verließen die Baustelle und liefen zügig in Richtung des Turms der Asinelli.
»Hört«, sagte Abdul leise und blieb vor einem Haus stehen, kaum dass sie allein waren. »Gestern Abend war ich betrunken, ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, als ich
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