Die Bruderschaft des Feuers
Popolo war besorgt. Höchst besorgt. Einer der wenigen sonntäglichen Passanten sah hinauf und richtete eine angedeutete Verbeugung an ihn. Visdomini kannte den Mann nicht. Vielleicht ein Handwerker auf dem Heimweg zum Mittagsmahl, der sich bei seinem Anblick am Fenster beschützt gefühlt hatte.
Doch in diesem Augenblick lag ihm nichts ferner als der Gedanke daran, die Bürger von Bologna zu beschützen. Er starrte hinunter auf die Straße, auf den Teil, der auf den sonntags geschlossenen Mercato di Mezzo ging, aber er nahm nichts wahr außer einigen Schneeflocken, die vereinzelt durch die Luft wirbelten, bevor sie auf das Fensterbrett herabsanken.
Er dachte an den schrecklichen Tod, den Bertrando Lamberti erlitten hatte. Das Göttliche Feuer, wie es der Pater nannte, hatte ihn getötet, weil er sein Treuegelöbnis dem Gott gegenüber gebrochen hatte.
Er erinnerte sich an den geheimnisvollen Ton, den die Frauen im Haus während der Nacht vernommen hatten. Jetzt wusste er zumindest ungefähr, worum es sich dabei handelte.
Und er dachte daran, was er alles unternommen hatte, damit er keine Ermittlung einleiten musste, indem er Bertrandos Tod als Teufelswerk erklärte, was im Grunde gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt lag.
Er dachte daran, wie die Wahrheit anscheinend trotz aller Widerstände um jeden Preis ans Licht kommen wollte. Mondino hatte Bertrandos Tätowierung entdeckt. Und der Franziskanermönch hatte den Brief gefunden …
Der Gedanke an diesen Brief ließ ihn nicht los. Er musste eine Entscheidung treffen, aber es gelang ihm nicht herauszufinden, welche die richtige war. Sein Kommandant hatte einmal zu ihm gesagt, bevor er ihm eine wichtige Aufgabe in der Schlacht anvertraute: »Wenn du eine Entscheidung triffst, überprüfe immer, ob du sie nicht aus Angst vor etwas getroffen hast. Angst ist ein sehr schlechter Ratgeber.«
Diesen Rat hatte Visdomini nie vergessen und immer versucht, ihn gewissenhaft zu befolgen, nicht nur im Krieg, sondern auch in seinem Alltag. Und trotzdem hatte er Angst, seit er diesen Brief gelesen hatte. Ihm war bewusst, dass er nicht in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, aber er konnte nichts dagegen tun. Manchmal genügte es eben nicht, einfach zu beschließen, keine Angst zu haben, um sich von ihr zu befreien.
Er entfernte sich vom Fenster und betrachtete den viereckigen Raum mit der hohen Decke: das Regal mit gleich zwei ledergebundenen Büchern und den Pergamentbögen, auf denen er seine offiziellen Briefe schrieb, den großen türkischen Teppich, der den Hauptteil des Holzfußbodens bedeckte – eine Hinterlassenschaft eines seiner Vorgänger in diesem Gebäude, der während seiner Amtszeit ohne Erben gestorben war –, den massiven Tisch mit den Gänsefedern und dem silbernen Tintenfass. Und den Stuhl, auf dem alle sechs Monate ein neuer Capitano del Popolo saß.
Nichts hier gehörte ihm, abgesehen von dem Tintenfass.
Visdomini war Soldat geworden, obwohl er Recht studiert hatte. Es war ein gutes Leben, aber nur, solange man jung war. Er hatte verschiedenen Städten gegen mehr oder minder großzügige Bezahlung gedient und immer alles ausgegeben, ohne an die Zukunft zu denken. Jetzt wurde er vierzig, seine dunklen Haare waren grau geworden, und er hatte den Wunsch, sich irgendwo niederzulassen.
Deshalb hatte er vor einigen Monaten mit Begeisterung das Angebot des Paters angenommen, schon in einem höheren Initiationsrang in die Sekte einzutreten, mit der Möglichkeit, enge Beziehungen zu zahlreichen Notabeln von Bologna zu knüpfen, die ihm nützlich sein könnten, um sich in der Stadt ein Leben als Beamter aufzubauen, wenn seine Amtszeit vorüber war.
Die religiöse, esoterische Seite war ihm wie ein unschuldiger Spaß vorgekommen, und als er beim Treuegelöbnis den Gott gebeten hatte, er solle ihn mit Feuer töten, wenn er die Geheimnisse je verriete, hatte er das nur für leere Worte gehalten.
Doch dann hatte er Bertrandos Leiche gesehen.
Und wenn er danach noch Zweifel gehabt hätte, so hatte jener weinerliche kleine Mönch sie ihm ausgetrieben, indem er ihm die Schriftrolle übergab, die er unter den Sachen seines Freundes gefunden hatte.
Er ging noch einmal zum Tisch, stapfte dabei gedankenlos über den Teppich und nahm die Rolle auf. Zunächst hatte er angenommen, dass der Pater sie vielleicht selbst verfasst hätte, um seine Macht so zu legitimieren. Doch dann hatte er sich den Tatsachen geschlagen geben müssen. Der Brief war auf ein
Weitere Kostenlose Bücher