Die Bruderschaft vom Heiligen Gral 01 - Der Fall von Akkon
Luft.
* Ein Stander ist eine militärische Untereinheit, die zur Zeit der Kreuzritter aus zehn Mann bestand.
Was im nächsten Augenblick geschah, war so unfassbar wie das, was bei ihrer Flucht aus dem Sarazenenlager zu ihrer Rettung ge führt hatte. Denn kaum hatte Dschullab den Zweig in die Luft geworfen, als Bismillah auch schon sein Schwert mit einer blitzschnellen, ge schmeidigen Bewegung aus der Scheide riss, mit geschlossenen Augen einen Schritt nach vorn in die Flugbahn des herabsegeln den Zweiges machte, im selben Augenblick den Kopf jedoch von ihm abwandte – und das gerade mal handlange Hölzchen mit der Klinge in der Luft in zwei Stücke hieb. Und Dschullab, der seine Augen ebenfalls geschlossen hatte, fing einen Wimpernschlag danach die beiden Teile auf. Die vier Ritter saßen ungläubig und wie erstarrt auf den Bänken. »Er hat nicht mal hingeblickt!«, stieß Gerolt hervor. »Hast du das gesehen, Maurice? Er hat sogar den Kopf dabei abgewandt! Und der andere hat die beiden Hälften fast im selben Moment aus der Luft gefischt. Die Klinge hätte ihm die Hände abhacken können, wenn er sie nur eine Sekunde zu früh ausgestreckt hätte!« Maurice saß mit offenem Mund da und war sichtlich unfähig, das Gesehene zu kommentieren. Die Röte auf seinem Gesicht ver wandelte sich in Blässe. Tarik bekreuzigte sich hastig dreimal, als wäre er Zeuge eines Blendwerks des Teufels geworden. »Heilige Jungfrau und Gottes mutter! Zwei Dschinn*, so es sie denn gibt, hätten das bestimmt nicht besser gekonnt!«, murmelte er erschrocken. »Sie sind blind und irgendwie doch nicht blind!«
* Ein Dschinn (arabisch, Mehrzahl: Dschinn) ist im Volksglauben der Mus lims ein böser Geist, ein Dämon, eine Art Teufel. Im Koran sowie in zahlrei chen Volkserzählungen (etwa in Tausendundeiner Nacht) spielen sie eine gro ße Rolle.
»Der Allmächtige stehe uns bei!«, entfuhr es McIvor und er griff mit zitternder Hand zu seinem Becher, als bräuchte er jetzt unbe dingt eine Stärkung. Bismillah ließ sein Schwert in die Scheide zurückgleiten und die Lider hoben sich wieder über dem stumpfen Weiß der erblinde ten Augen. »Genug der unwürdigen Spielereien, werte Ritter. Der heilige Abbé wartet auf Euch. Also kommt und folgt uns!« Und als wäre er sich absolut sicher, dass sie sich der Aufforderung nun nicht länger widersetzen würden, kehrte er ihnen zusammen mit seinem Bruder den Rücken und trat durch die offen stehende Tür hinaus auf die Seitengasse. Als der Schankwirt wenig später den Kopf durch die Hintertür in den Hof steckte, um nach den weiteren Wünschen seiner Gäste zu fragen, fiel sein überraschter Blick auf einen verlassenen Tisch. Als er sich dann kopfschüttelnd daran machte, den Tisch abzuräumen, stellte er zu seiner großen Verblüffung fest, dass nicht nur drei der Steinhumpen noch gut gefüllt waren, sondern dass die trinkfesten Templer sogar einen halb vollen Weinkrug zurückgelassen hatten. Wenn er von ihnen etwas nicht erwartet hätte, dann das. Und vergebens rätselte er, was sie bloß zu solch einem überstürzten Aufbruch bewogen haben mochte.
2
Die vier Ritter folgten Bismillah und Dschullab wie eine Herde fügsamer Schafe ihrem Leittier, wahrten jedoch drei Schritte Abstand. Nicht aus Templerstolz, sondern weil ihnen die beiden Braunmäntel unheimlich waren und sie ihre Nähe scheuten. Der Schreck saß ihnen noch immer in den Gliedern. Niemand sprach ein Wort. Die Wirkung des Weins war verflogen. Von der Großmäuligkeit, dem Dünkel und der Arroganz, die sie noch vor wenigen Minuten im Hinterhof der Weinstube an den Tag gelegt hatten, war ihnen ebenfalls nichts mehr anzumerken. Nicht einmal Maurice, der in seinem Standesbewusstsein so leicht nicht zu erschüttern war und gern das große Wort führte, hatte sich einen Rest seiner üblichen Selbstgefälligkeit bewahrt. Buchstäblich ernüchtert und mit den hängenden Schultern eines vernichtend geschlagenen Kriegers, der sich bis dahin für unüberwundbar gehalten hatte, ging er neben Gerolt her. Und auch auf seinem gesenkten Gesicht lag ein Ausdruck von tiefer Betroffenheit und noch größerer Unruhe. Sie wagten nicht einmal, Fragen zu stellen. Äußerste Vorsicht in dem, was sie sagten oder taten, war jetzt das Gebot der Stunde. Jeder von ihnen hatte noch immer die unglaubliche Schnelligkeit und Sicherheit vor Augen, mit der Bismillah sein Schwert gezogen und den Zweig in der Luft in zwei Stücke geschlagen hatte. Schon für einen
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