Die Brücke am Kwai
Es wäre ein grober Irrtum, glauben zu wollen, daß die Zerstörung einer Brücke ein einfaches Geschäft ist. – Joyce sollte versteckt auf dem feindlichen Ufer bleiben und dort den Zug abwarten. Shears sollte zu Warden stoßen, und beide zusammen wollten den Rückzug von Joyce decken.
Warden sollte sich auf dem Beobachtungsposten einrichten, die Funkverbindung aufrechterhalten, das Treiben um die Brücke herum beobachten und nach Stellen suchen, von denen aus man Joyces’ Rückzug decken konnte. Sein Auftrag war nicht streng begrenzt. »Number One« hatte ihm eine gewisse Freiheit des Handelns eingeräumt. Er sollte den Umständen entsprechend sein Bestes tun.
»Sollten Sie die Möglichkeit für irgendwelche weitere Aktionen sehen, ohne dabei Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden, so verbiete ich Ihnen das selbstverständlich nicht«, hatte Shears gesagt. »Die Grundsätze der >Force 316< sind immer die gleichen. Aber halten Sie sich stets vor Augen, daß die Brücke das Ziel Nummer Eins ist und daß Sie unter keinen Umständen die Aussichten auf einen Erfolg in dieser Beziehung gefährden dürfen. Ich rechne darauf, daß Sie ebenso vernünftig wie tatkräftig handeln werden.«
Er wußte, daß er, was Tatkraft und gleichzeitige Vernunft anlangte, auf Warden rechnen konnte. Wenn er Zeit dazu hatte, wog Warden die möglichen Folgen aller seiner Handlungen genau ab.
Nach einem ersten Rundblick entscheidet sich Warden dafür, auf ebendiesem Gipfel die beiden kleinen Granatwerfer, eine Miniatur-Ari, über die er verfügt, in Stellung zu bringen, und im Augenblick, in dem der große Schlag geführt wird, diesen Posten mit zwei thailändischen Partisanen zu besetzen, damit sie die Trümmer des Zuges, die Mannschaften, die versuchen würden, sich zu retten, und die ihnen zu Hilfe eilenden Soldaten beschießen können.
Dies hielt sich durchaus in den Grenzen, die ihm sein Chef implicite vorgezeichnet hatte, als er die unveränderlichen Grundsätze der »Force 316« zitierte. Diese Grundsätze ließen sich folgendermaßen zusammenfassen: »Niemals ist eine Operation als völlig beendet anzusehen; niemals darf man sich als zufriedengestellt erklären, solange noch eine Möglichkeit vorhanden ist – und wäre diese noch so gering –, dem Feinde einen Schaden zuzufügen.« (Wie auf vielen anderen Gebieten wurde auch auf diesem Feld nach dem angelsächsischen Prinzip der »Vollkommenheit« gearbeitet.)
Nun, ein Schauer von kleinen Granaten, der vom Himmel herab auf die Geretteten herunterregnete, würde bestimmt recht geeignet sein, den Feind völlig zu demoralisieren. Die überragende Lage des Beobachtungspostens war von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet nahezu wunderbar. Warden sah zu gleicher Zeit noch einen weiteren, wichtigen Vorteil in dieser Fortsetzung der Aktion, nämlich den, daß er die Aufmerksamkeit der Japaner ablenken und auf diese Weise indirekt dazu beitragen würde, den Rückzug von Joyce zu decken.
Lange kriecht Warden zwischen den Farnkräutern und wild blühenden Rhododendronstauden hin und her, ehe er die Stellen findet, die ihn völlig zufriedenstellen. Als er sie gefunden hat, ruft er die Thailänder heran, sucht zwei von ihnen aus und erklärt ihnen deutlich, was sie, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, zu tun haben werden. Diese begreifen schnell und scheinen seine Idee gutzuheißen.
Es ist ungefähr vier Uhr nachmittags, als Warden diese Vorbereitungen beendet hat. Er fängt gerade an, über die weiteren Anordnungen nachzudenken, die er zu treffen hat, als er vom Tal herauf Musik erklingen hört. Er begibt sich wieder auf seinen Beobachtungsposten und späht mit dem Fernglas auf die Bewegungen von Freund und Feind hinunter. Die Brücke liegt verlassen da, doch in dem Lager auf dem anderen Ufer herrscht ein seltsames, aufgeregtes Treiben. Warden begreift sehr schnell, daß die Gefangenen die Erlaubnis bekommen haben, oder vielleicht auch gezwungen worden sind, ein Fest zu veranstalten, um die glückliche Vollendung des Bauwerks zu feiern. Eine vor einigen Tagen eingetroffene Meldung hat diese durch das Wohlwollen Seiner Majestät des Kaisers angeordneten Freudenfeiern bereits angekündigt.
Die Musik wird von einem primitiven, sicherlich an Ort und Stelle mit zufällig vorhandenen Mitteln selbstverfertigten Instrument ausgeführt, doch die Hand, die die Saiten streicht, ist eine europäische. Warden kennt die barbarischen Rhythmen der Japaner nur allzugut, als daß er sich hierin irren
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