Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
alt.«
Ramita wurde eiskalt. Es war so leicht, zu vergessen, dass Magi anders waren als normale Menschen. Nach einer Weile fragte sie: »Wie sieht sie aus?«
Meiros überlegte, dann sagte er: »Wie eine Dreißigjährige, würde ich sagen. Sie hat langes dunkles Haar und helle Haut. Man sagt, sie wäre schön. Sie kommt nach ihrer Mutter, wie man sieht«, fügte er selbstironisch hinzu.
Ramita ließ nicht locker. »Was ist mit Eurer Frau geschehen?«
»Sie starb an Altersschwäche. Das war vor vierzig Jahren.« Sein Blick wanderte ins Leere. »Ihr Vater war ein Anhänger Corineus’ wie ich. Wir heirateten, als ich mich in Pontus niederließ.«
»Wer war Corineus? Ist er nicht Euer Gott?«
Meiros schüttelte den Kopf. »Nein. Zumindest damals nicht. Baramitius und seine Gefolgsleute haben im Nachhinein einen Gott aus ihm gemacht, aber für mich war er immer nur Johan – ein bisschen verrückt, undurchschaubar, fesselnd, aber durch und durch Mensch. Er hat mein Leben verändert, und das mehrmals. Ich war der jüngste Sohn eines Barons aus Bricia, die Zukunft hielt für mich nichts bereit als eine Laufbahn in der Legion. Dann kam Johan in unser Dorf und lockte mich fort. Das war zur Zeit des Rimonischen Reiches. Wir waren alle Sollaner, und die Drui lehrten, Erlösung sei unter anderem zu erreichen, indem man seinem inneren Ruf folgt. Folglich wimmelte es nur so von Wanderpredigern. Ich hörte Johan Corin auf dem Marktplatz sprechen. Er redete von Freiheit und Gleichheit, doch ich war gefangen. Er beschrieb eine Welt, die von Liebe, Wahrheit und Verständnis regiert wurde, eine Traumwelt. Er hatte eine Frau dabei, Selene, und noch ein Dutzend andere Jünger. Noch am selben Tag ließ ich das Leben hinter mir, das meine Familie mir zugedacht hatte, und schloss mich ihm an. Damals war ich dreizehn. Mehrere Jahre zogen wir durch ganz Rondelmar und predigten Johans Version des Sollan-Glaubens. Wenn der Stadtrat uns verjagte, schliefen wir auf dem freien Feld oder unter Bäumen, aber es gab auch Orte, an denen wir willkommen waren, und Johans Gefolgschaft wuchs ständig. Bald waren wir hundert, im Frühling darauf schon fast zweihundert, jeden Tag kamen Neue hinzu. Und ein neues Wort wurde in Umlauf gebracht: Messias. Das bedeutet Retter. Aus Corin wurde Corineus, und es hieß, er sei gekommen, um uns in ein besseres Leben hier auf Urte zu führen. Die militärischen Befehlshaber bekamen es allmählich mit der Angst zu tun, weil wir so viele waren. Es kam zu Zwischenfällen, einige von uns wurden getötet. Johan schritt persönlich ein und konnte die Offiziere schließlich überzeugen, keine Gewalt anzuwenden. Ab diesem Zeitpunkt schossen die Gerüchte über seine Wundertaten nur so aus dem Boden. Das war natürlich alles Unfug, aber am Ende des Sommers war unsere Gruppe auf über tausend angewachsen. Johans – Corineus’ – Reden wurden immer aufgeblasener. Er sprach von Visionen, die Sol und Lune ihm geschickt hätten. Selene behauptete, Sol und Lune höchstpersönlich hätten Corineus und sie verwandelt, hätten sie zu Bruder und Schwester gemacht, und sie begann, sich Corinea zu nennen.« Meiros schüttelte den Kopf. »Hüte dich vor allen, die behaupten, das Wort Gottes zu sprechen, Frau. Höchstwahrscheinlich lügen sie. Die größten Lügner, die Urte je gesehen hat, behaupten, im Auftrag Gottes zu sprechen.«
»Aber Priester …«
»Vor allem Priester! Traue ihnen nie. Und traue vor allem keinem Magus, der behauptet, seine Kräfte kämen von Kore, Ahm oder Sol oder wem auch sonst.« Er wackelte mit dem Finger. »Niemals!«
»Aber Ihr selbst habt Eure Kräfte von Gott. Das hat Guru Dev mich gelehrt.« In Wirklichkeit hatte Guru Dev gesagt, die Kräfte der Magi kämen von den Dämonen aus Hel, aber Ramita hielt es für unklug, das zu wiederholen.
Meiros lachte. »Hah! Ja, die Anhänger Kores haben wirklich das Beste aus der Corineus-Legende herausgeholt.« Er beugte sich nach vorn. »Das Geheimnis der Gnosis liegt in etwas, dem Baramitius den klangvollen Namen ›Skytale des Corineus‹ gab. Baramitius war gut im Legendenspinnen – und im Tränkebrauen. Er war Corins ältester Schüler, ein Alchemist. Er war der eigentliche Wunderwirker. Baramitius entdeckte einen Trank, den er Ambrosia nannte. Wer davon kostete und überlebte, erhielt die Gnosis – die Macht, die Natur zu manipulieren. Ich zumindest habe keinen Gott gesehen in jener Nacht.«
Verdutzt blickte Ramita ihn an. Sie war verwirrt. »Waren es
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