Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
einen Brustharnisch und hatte ein Schwert in der Hand. Immer noch hielt ich das Mädchen neben mir fest, während ich mit der anderen Hand die Geister vertrieb. Die anderen um uns herum taten das Gleiche oder fast, denn manche benutzten Feuer, andere bliesen die Geister mit einer Art Wind davon oder mit blässlich blauem Licht. Aber es starben auch viele. Sie waren schutz- und hilflos, konnten sich nicht verteidigen wie wir anderen. Ich kämpfte wie ein Berserker, schlug verzweifelt mit dem Schwert um mich, und mit einem Mal waren die Geister und die Dunkelheit weg, wir wurden zurückgespült ans nackte kalte Tageslicht, um uns herum ein Meer von Leichen.«
Meiros erschauderte. »Ich kam wieder zu mir, einen Arm um das Mädchen geschlungen, das später meine erste Frau wurde. Neben uns lag ein junger Mann, ein guter Freund: tot, mit verdrehten Gliedern, Augen und Mund weit aufgerissen in einem stummen Schrei. Neben ihm und um uns herum lagen noch andere. Dann sah ich einen, der überlebt hatte. Allmählich kamen wir einer nach dem anderen wacklig auf die Beine. Vielleicht die Hälfte war noch übrig. Alle anderen waren entweder tot oder verrückt. Dann wanderten unsere Blicke zur Mitte der Gruppe, wo Johan und Selene immer noch am Boden lagen. Selbst aus der Entfernung sah ich das Blut auf Johans Tunika. Ich hörte einen Klageruf, und Selene setzte sich auf. Sie hob die blutverschmierten Hände, dann drehte sie Johan auf den Bauch. Ich werde ihren Schrei nie vergessen. Inmitten all der Verwirrung hatte sie ihrem Geliebten, von irgendeiner Vision besessen, einen Dolch ins Herz gestoßen.«
Ramita spürte, wie ihr übel wurde. Sie hatte fürs Erste genug gehört, aber Meiros nahm sie kaum wahr, so gebannt war er von der Vergangenheit.
»Ich erinnere mich noch, wie man versuchte, sie zu packen«, sprach er weiter. »Selene schlug nach ihren Häschern. Ihre Finger waren wie Messer und schlitzten ihnen die Kehle auf. Dann rannte sie davon, noch bevor irgendjemand sie aufhalten konnte. Unser Lehrer war tot, seine Geliebte geflohen, und wir Übrigen glaubten, wir hätten den Verstand verloren. Einer hob beschwörend die Hände zum Himmel, da schlugen plötzlich Flammen aus seinen Fingern. Ich sah einen Zweiten, der weinte. Doch seine Tränen flossen nicht die Wangen hinab, sie stiegen nach oben und bildeten einen Ring um seinen Kopf. Eine Frau erhob sich schwebend in die Luft und brach in nackte Panik aus, weil sie keinen Boden mehr unter den Füßen hatte. Ich konnte an nichts anderes denken, als das Mädchen neben mir zu retten. Was wir zusammen durchgemacht hatten, hatte uns für den Rest des Lebens zusammengeschweißt. Ich war umgeben von Licht, und um uns herum errichtete sich wie von selbst ein steinerner Schutzwall. Jeder, der überlebt hatte, wirkte unkontrolliert irgendwelche Wunder. Manche töteten mit einem zufälligen Gedanken unbeabsichtigt ihren Nebenmann, andere, die noch weniger Kontrolle hatten, brachten sich selbst um, gingen in Flammen auf oder verwandelten sich in Stein. Es war schlimm, Hel auf Urte. Und in all dem Chaos rückte eine fünftausend Mann starke Legion durch den morgendlichen Nebel gegen uns vor. Etwa sechshundert hatten Baramitius’ Trank überlebt. Hundert davon hatten den Verstand verloren, weitere hundert waren unverändert geblieben, verfügten über keinerlei neue Kräfte. Blieben noch vierhundert, die kaum Kontrolle hatten über das, was sie taten. Alles, was wir wussten, war: Wenn wir uns etwas vorstellten, wurde es irgendwie Realität. Und als die Legionäre uns angriffen, fanden wir die Kraft und die Konzentration, uns zu wehren. Wir vernichteten sie mit der Gewalt der Elemente, Feuer, Erde, Wasser, Wind und mit purer Energie. Mehr hatten wir damals nicht, die Feinheiten kamen erst später. Diese erste Schlacht war das reinste Gemetzel, und ich war nicht der Einzige, der entsetzt war über sich selbst. Einige schworen sich, nie wieder mit ihren Kräften zu töten. Baramitius und Sertain jedoch, der später der erste rondelmarische Kaiser wurde, suhlten sich in unserem Sieg. Für sie war das die Erlösung, die Corin ihnen versprochen hatte. Sie sahen sich als junge Götter und schworen, die Rimonier zu vernichten und über ganz Urte zu herrschen. Als sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzten, waren ich und viele andere längst geflohen.«
Ramita hatte fast vergessen zu atmen. »Wohin seid Ihr gegangen?«, flüsterte sie.
»Fort. Ich war nie ein Mann der Gewalt gewesen und war
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