Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
diesmal eine ganz andere als ihre Entjungferung: voller Wunder und spiritueller Erfüllung, es war wie ein Erwachen. Die Symbole stellten Sprache dar, sie transportierten Wissen. Konzentriert sprach Ramita Meiros die einzelnen Buchstaben nach, bis er schließlich zufrieden war.
Er legte das Buch weg und bestieg sie, diesmal eher zum Vergnügen als zu Fortpflanzungszwecken, wie es schien. Es war weniger schlimm, und als Meiros ging, ließ er ihr das Buch da.
Ramita drückte es an die Brust und schlüpfte unter ihre Decken. Ihr Kopf schwirrte nur so vor lauter neuen Dingen. Als sie schließlich die vor ihrem inneren Auge tanzenden Bilder nicht mehr aufnehmen konnte, schlief sie ein.
Zu Huriyas Entsetzen reiste Ramita von nun an in Meiros’ Kutsche, damit er ihr weiter Unterricht geben konnte. Huriya war wieder allein in der Frauenkutsche. Die Landschaft hatte sich ein weiteres Mal verändert: Um sie herum war nichts als Sand, zu sanften goldenen Wogen aufgeschüttet. Kein einziger Baum, nur ein paar vereinzelte Felsbrocken, zwischen denen sich Eidechsen und Schlangen versteckten und in deren Schatten Schakale dösend auf den Anbruch der Dämmerung warteten. Gleichmütig setzten die Kamele einen Fuß vor den anderen, endlos, den ganzen Tag über. Sie waren erstaunlich sanfte Kreaturen, ganz anders als die in Aruna Nagar, die von ihren Besitzern ständig geschlagen wurden, bis sie endlich gehorchten. Meiros’ Kamele wurden gut behandelt, und dafür revanchierten sie sich mit gutem Betragen. Nur die Hitze unter dem Sonnendach war beinahe unerträglich.
Meiros hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und Ramita nutzte die willkommene Gelegenheit: Das lange dünne Haar passte nicht zu ihm, den strähnigen Bart hätte sie am liebsten abgeschnitten. Seine Augen waren ruhelos, doch manchmal lächelte er, während er ihr Sprachunterricht gab. Er entschuldigte sich, dass sie nicht in einem Windschiff reisten, was wesentlich schneller gegangen wäre, aber das hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt. Doch Ramita war gar nicht traurig: Sie hatte noch nie eins dieser fliegenden Dinger gesehen, und die Vorstellung, selbst in einem zu reisen, jagte ihr Angst und Schrecken ein.
Allmählich verlor Ramita die Furcht vor ihrem Mann. Hinter den halb durchsichtigen Vorhängen der Kutsche konnten sie freier miteinander sprechen, und sie entdeckte, dass Meiros, wenn auch manchmal barsch, so doch ein eher geduldiger Mensch war. Wenn er entspannt war, wirkte er beinahe jung.
»Das kommt von der Wüstenluft«, antwortete er, nachdem sie den Mut gefunden hatte, ihre Beobachtung auszusprechen. Ramita glaubte eher, es hatte damit zu tun, dass er hier für eine Weile seine Sorgen und Pflichten vergessen konnte.
Nicht alles, was er ihr beibrachte, hatte mit Sprache zu tun. Meiros zeigte ihr ein Mantra, mit dem sie ihre Gedanken vor neugierigen Magi schützen konnte. Zwar nur für kurze Zeit, aber immerhin lange genug, um jemanden zu Hilfe zu rufen. Die Vorstellung, dass andere ihre Gedanken lasen, fand Ramita beängstigend, und sie übte verbissen, um das Mantra auch unter den widrigsten Umständen anwenden zu können. Meiros lobte ihren Fortschritt, und das freute Ramita. Auch Huriya lehrte er, ihre Gedanken zu schützen, und sie lernte schnell.
Ab und zu erzählte er ihr von dem Ort, zu dem sie unterwegs waren. »Hebusal ist eine der heiligen Stätte der Amteh«, erklärte er. »Eine von den drei wichtigsten überhaupt, was ein weiterer Grund ist, warum sie dort etwas gegen die rondelmarische Besetzung haben. Hebusal war eine große und wichtige Stadt, lange bevor die Brücke gebaut wurde.« Er erzählte von den Sultanen in Dhassa und von weit zurückliegenden Kriegen, aber Ramita interessierte sich mehr für die jetzigen Verhältnisse.
»Wer ist diese Justina, von der Ihr manchmal sprecht?«
Meiros hielt mitten im Satz inne. »Justina? Sie ist meine Tochter, meine einzige. Meine zweite Frau war ihre Mutter.«
»Lebt sie noch bei Euch? Wie alt ist sie? Ist sie verheiratet? Hat sie Kinder?«
Meiros war sichtlich amüsiert über den plötzlichen Ansturm von Fragen. »Ja, sie lebt bei mir, aber sie hat ihren eigenen Wohnflügel, kommt und geht, wie es ihr gefällt. Nein, sie ist nicht verheiratet. Sie hat Liebhaber, vermute ich. Aber das geht mich nichts an. Sie hat keine Kinder – wir Magi pflanzen uns nicht leicht fort, fürchte ich. Was ihr Alter betrifft …« Er blickte ihr in die Augen. »Justina ist einhundertdreiundsechzig Jahre
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