Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
also die Dämonen aus Hel, die Ihr gesehen habt?«, fragte sie gedankenlos und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen.
Zu ihrer großen Erleichterung lachte Meiros wieder. »Nein, und auch keine Engel. Liebe Frau, in meinem ganzen Leben habe ich weder einen Dämonen noch einen Engel gesehen, und ich rechne auch nicht damit, noch welche zu sehen zu bekommen.« Er war sichtlich erheitert. »Die Gnosis hat nichts mit irgendeiner Gottheit zu tun, verstehst du?« Er fuchtelte mit dem Finger, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dann hielt er plötzlich inne und starrte seinen eigenen Finger an, erstaunt über seine eigene Erregung. Ramita spürte, wie ihr Herz sich noch ein Stück mehr für ihn erwärmte. Irgendwie erinnerte er sie an Guru Dev.
»Nein, die Skytale hatte nichts mit Religion zu tun«, sprach er schließlich weiter. »Dieser Trank, den Baramitius gebraut hatte, Johan hatte damit unseren Geist für die Götter öffnen wollen. Er war auf die Idee gekommen, nachdem er Rauschmittel aus Sydia genommen hatte, was wiederum einiges darüber sagt, in welcher geistigen Verfassung er sich damals befunden hat. Baramitius rackerte sich ab, um die richtige Zusammensetzung zu finden. Er probierte herum und verabreichte Versuchspersonen seine Mixturen. Einige davon sind gestorben, aber Johan hat es immer vertuscht, um ihn zu schützen. Erst Jahre später habe ich von diesen Experimenten erfahren. Ich war entsetzt. Aber wie dem auch sei, schließlich fand Baramitius, wonach er gesucht hatte, und Johan ließ ihn den Trank an alle verteilen. In jener Nacht sagte Corin zu uns, wir würden den Wein der Götter trinken, um zu ihnen aufzusteigen und sie zu grüßen. Eine Legion hatte unser Lager umstellt. Beunruhigte Bürger aus der nächsten Stadt hatten sie herbeigerufen, aber Corineus ließ sich nicht beirren und setzte die Zeremonie fort. Das war in Nordrondelmar an einem warmen Spätherbsttag. Es wurde allmählich dunkel, in den Wäldern heulten die ersten Wölfe, und wir sprangen mit Blumenkränzen behängt und berauscht vom Wein über die Lichtung. Corineus lallte etwas von Opfer und Liebe und Errettung, während an alle ein Fingerhut voll Ambrosia verteilt wurde. Jeder bekam nur einen Tropfen, und auf Corineus’ Zeichen hin tranken wir, während schon die ersten Legionäre ins Lager kamen. Ganz allmählich verteilte sich der Trank in unserem Blut: Er wirkte wie ein Lähmungsgift, und wir brachen alle zusammen. Wir waren bei Bewusstsein, konnten uns aber nicht bewegen. Ich sah alles wie eingefroren und vergrößert. Ich konnte die verschiedenen Farben in dem Licht sehen, das Lune auf uns herabscheinen ließ. Tiefer und tiefer versanken wir in diesem Zustand, und als es schließlich dunkel war, sahen wir einen durchschimmernden Schein, der unseren Körper umgab. Ich hörte, wie jemand unglaublich langsam und mit unfassbar tiefer Stimme nach seiner Mutter rief. Mutter? , dachte ich, da sah ich sie plötzlich, meine eigene Mutter, wie sie Hunderte Meilen weit weg am Tisch saß und meinen Namen rief. Sie schaute in meine Richtung, konnte mich aber offensichtlich nicht sehen. Es war so real, als hätte ich direkt neben ihr gestanden. Überall um mich herum murmelten Stimmen die Namen von Eltern, Geschwistern und Kindern – die Namen derer, die sie verlassen hatten, als sie sich Johan anschlossen. Vielleicht haben sie sie auch gesehen, so wie ich meine Mutter sah. Doch dann veränderte sich wieder etwas, unsere Schläfrigkeit wurde überlagert von brennendem Schmerz. Alle tausend schrien wir wie aus einer Kehle. Der Schmerz packte uns und wurde immer stärker, als würden unsichtbare Klauen uns bei lebendigem Leib die Eingeweide herausreißen. Viele verloren das Bewusstsein, manche starben. Ich hielt die Hand des Mädchens neben mir fest, die andere hatte ich in den Boden verkrallt vor Schmerz. Es war ihre Hand, die mich in dieser Welt hielt, die meinen Geist davor bewahrte, sich aufzulösen. Es war, als würde die Welt um uns herum verschwinden und wir ins Leere fallen, in endlose Dunkelheit. Doch waren wir dort nicht lange allein, denn plötzlich umgaben uns die Gesichter der Toten, Gesichter von Menschen, die ich einst kannte: Gefolgsleute Johans, die unterwegs verstorben waren, Menschen aus meiner Kindheit. Zuerst verhielten sie sich ganz still, dann begannen sie zu heulen und zu schreien, und schließlich stürzten sie sich mit gespreizten Geisterklauen auf uns. Ich rief Sol an um Schutz, da trug ich plötzlich
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