Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Luca Fustinios krallte sich an den Holzplanken fest. Er warf Elena einen fragenden Blick zu, um sich zu versichern, dass das Manöver Absicht war und nicht der Auftakt zu einem plötzlichen und unangenehmen Tod.
»Wir werden westlich der Stadt landen, weit genug weg vom See«, erklärte sie, um alle zu beruhigen. »Wir werden uns beeilen müssen. Ich will noch vor Tagesanbruch an den Stadtmauern sein. Dort wird sich auch unser erstes Angriffsziel aufhalten, Anro Domla. Er verstärkte die äußeren Verteidigungsanlagen.«
Anro Domla war hauptsächlich Erdthaumaturg. Er war ein großer, kräftig gebauter Mann und sanftmütig, sofern man ihn nicht reizte. Elena hatte gesehen, wie er mit bloßen Händen Granitblöcke bearbeitet hatte, als handele es sich um Tonklumpen. Sie mochte Anro und bedauerte, dass er auf der Seite des Feindes stand. Er war der Einzige aus Gurvons Truppe gewesen, der mit ihr in der Revolte gekämpft hatte. Die meisten Magi, die Gurvon später angeworben hatte, waren ihr nicht geheuer. Sie waren talentiert, taumelten aber auch ständig am Rand des Größenwahns.
Anro als Ersten zu beseitigen war sinnvoll. Er konnte nur mit Stofflichem umgehen und war ein vergleichsweise leichtes Ziel. Wenn sie ihn allein erwischten, wäre er nicht in der Lage, die anderen zu Hilfe zu holen. Danach würde es schwieriger werden …
Elena kam sich wieder vor wie früher, dachte nur an Ziele und Schwächen, daran, wie man am besten tötete. Nachdem sie Cera und Timori vor Samir gerettet hatte, hatte Elena das Gefühl gehabt, sich verändert zu haben, ein liebenswerterer Mensch geworden zu sein. Aber diese Person war die falsche für diesen Einsatz. Was es jetzt brauchte, war die Elena, die ihren Feinden, ohne mit der Wimper zu zucken, das Messer in den Rücken rammte, Freunde opferte und das Leben am Rand des Abgrunds in vollen Zügen genoss. Fünf Magi mussten aus dem Weg geräumt werden, dann konnte die ruchlose Elena verschwinden wie ein Kleid, das nicht mehr zu ihr passte und das sie nie wieder tragen würde.
Das machte ihr zumindest Hoffnung. Elena konzentrierte sich auf Anro und sandte ihre Gedanken aus. Sie rief sich die Augenbrauen ins Gedächtnis, die sich bauschten wie Gewitterwolken, und das kantige Gesicht, das genauso freundlich lächeln wie finster dreinschauen konnte. Anro hatte die Schultern eines Stiers und erstaunlich dünne Beine. Er war ein urwüchsiger, einfacher Mann: stark, geradeheraus und verlässlich. Es tut mir so leid, Anro, aber du hättest nicht herkommen sollen.
Den ganzen Tag über war Anro Domlas Laune immer übler geworden. Warum muss immer ich all die schweren Arbeiten erledigen, während die anderen sich im Palast vergnügen? Und warum hat Gurvon ausgerechnet Sordell das Kommando übertragen? Alles, was der tut, ist, in seinem Turm ängstlich in die Zukunft zu schauen oder vor Alfredo Gorgio im Staub zu kriechen, dieser arrogante argundische Faulpelz. Und die beiden Neuen, diese hochnäsigen Trottel, zu nichts zu gebrauchen, genauso wenig wie Vedya, das Miststück. Ich bin der Einzige, der hier irgendwas arbeitet, und wir müssen diese ganze dämliche weitläufige Stadt befestigen, bevor der verdammte Kriegszug beginnt.
Brochena, die Hauptstadt Javons, saugte seit Langem die Menschen auf wie ein Schwamm und war schon vor Jahren weit über die ursprünglichen Verteidigungsanlagen hinausgewachsen. Die Dorobonen hatten die Mauern verstärkt, und die Nesti hatten sie wieder eingerissen, weshalb Alfredo Gorgio mit zehntausend Mann einfach so ins Herz der Stadt hatte marschieren können.
Und was hat Elena eigentlich geritten? Warum ist sie Samir in den Rücken gefallen? Will sie noch mehr Beute? Würde ihr ähnlich sehen, dieser gierigen Hexe. Gurvon war außer sich gewesen. Er hatte alle verfügbaren Leute zusammengerufen und sie nach Javon geflogen. Und seit dem Tag ihrer Ankunft hatte Anro nichts anderes getan, als die verdammten Mauern zu verstärken. »Jemand muss die Befestigungsanlagen um die Innenstadt wiederaufbauen, Anro, und du bist der Beste, den wir für diese Aufgabe haben«, hatte Gurvon zu ihm gesagt. Dieser schmierige Scheißkerl. Die anderen ihm dabei helfen? Aber nein! Dann war Gurvon nach Bres verschwunden, sich um irgendwelche Lappalien zu kümmern. Sordell und seine Naseweise hatte er dagelassen, um den Gorgios Gesellschaft zu leisten, während Vedya herumhurte wie immer.
Vielleicht hatte er auch schlecht geschlafen, aber heute hatte er es gründlich satt.
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