Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Anros Zorn wuchs von Minute zu Minute. Momentan verwendete er ihn dazu, seine Gnosis zu befeuern. Wieder und wieder grub er die Hände in den Stein, zog ihn hoch wie Ton auf einer Töpferscheibe, formte und verstärkte ihn. Eine ganze Meile Mauer hatte er bereits errichtet, beinahe die gesamte Westseite der Altstadt war nun abgeschirmt. Zwei Wochen harter Arbeit, und jetzt reichte es ihm.
Er hob einen Quader, so groß, dass ein indranischer Elefant alle Mühe damit gehabt hätte, und wuchtete ihn an seinen Platz. Den ganzen Tag über arbeitete er schon so hart, wie er nur konnte, um wenigstens ein bisschen Fortschritt zu sehen. Gurvon hatte gesagt, die Nesti-Bälger seien immer noch in Forensa, aber was, wenn sie schon auf dem Weg hierher waren? Diese Möglichkeit mussten sie in Betracht ziehen, vor allem wenn dieses hinterhältige Weibsstück Elena Anborn die Finger im Spiel hatte.
Er spuckte aus, wünschte sich, er könnte noch irgendjemandem außer Gurvon vertrauen. Früher, in den alten Tagen, hatte er so etwas wie Kameradschaft mit den anderen verspürt, aber das war längst vorbei. Nachdem Vedya zu ihnen gestoßen war, war es damit schnell bergab gegangen. Die sydianische Hexe war wandelndes Gift. Trotzdem hätte er nichts dagegen gehabt, seinen Schwanz in sie zu stecken und ihrem Gequieke zu lauschen.
Anro schüttelte verwirrt den Kopf. Woher kommt diese ganze Wut? Er hob den nächsten Brocken hoch und wuchtete ihn auf den anderen. Beinahe wäre er ins Taumeln geraten, so schwer war der Quader. Wenn er diesen Abschnitt nur vor Sonnenuntergang fertig bekam … Er gab alles, all seine Gnosis, all seine Muskelkraft und das letzte Fünkchen Willen. Das Ganze hier muss rechtzeitig fertig werden, verdammt! Er spürte, wie die vier Soldaten ihn ehrfürchtig anstarrten, und es machte ihn stolz. Ja, seht her. Schaut euch an, wozu ein echter Magus imstande ist.
Er rammte die Arme bis zu den Ellbogen in die beiden Blöcke vor sich, knetete sie wie Teig zu einem Stück, glättete die Kanten und stürzte sich wie im Rausch schon auf die nächsten. Koreverflucht, die Sonne geht schon unter. Er ließ den Blick über die ärmlichen Hütten der Jhafi-Würmer wandern. Ungewöhnlich: Keiner von ihnen war zu sehen. Habt wohl Angst vor dem großen Magus aus Rondelmar, ihr Schleimscheißer.
Anro stöhnte und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Was ist bloß los mit mir? Ich bin doch sonst nicht so …
Aber es ist noch so viel zu tun, flüsterte eine Stimme in ihm.
Richtig, noch viel mehr. Er beugte sich über den nächsten Stein. Der Brocken war so groß wie die beiden vorigen zusammen.
Nur noch einen , flüsterte die heimtückische Stimme.
Das ist nicht meine Stimme, rukka! Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Den ganzen Tag über war er angepeitscht worden wie ein Stier in der Arena. Er wirbelte herum, spürte, wie die Schatten näher kamen.
»Vors…!«, war alles, was er noch rufen konnte, da tauchte eine schmale Silhouette hinter einem der Soldaten auf, zog seinen Kopf nach hinten und schnitt ihm die Kehle durch. Blut spritzte über den Stein, schwarz wie Tinte im Zwielicht der anbrechenden Nacht.
Die anderen drei versuchten noch, ihre Schwerter zu ziehen, doch schon schimmerten weitere Klingen im kalten Sternenlicht, durchstießen Luftröhre und Herz, und die Soldaten sackten röchelnd in sich zusammen. Die erste Angreiferin kam mit kalt blitzenden Augen auf ihn zugejagt, das blassblonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Elena.« Du Dreckstück, ich hätte es wissen müssen. »Wie lange hast du mich schon …«
»Den ganzen Tag, Anro.« Ihre Stimme klang sanft, beinahe traurig. »Ich habe dich immer weiter aufgestachelt. Hast du noch Kraft zu kämpfen?«
»Für dich bestimmt!« Taumelnd hob er den Stein zu seinen Füßen über den Kopf und schleuderte ihn nach Elena, traf aber nur einen Stützpfeiler und brachte die Hälfte des Mauerstücks zum Einsturz, das er heute errichtet hatte. Elena war fort.
Hinter dir!
Anro wirbelte herum und schlug mit einem Hammer nach dem Kopf der Hexe. Pfeifend sauste er knapp übers Ziel hinweg, und Anro wurde vom Schwung seines Schlags mitgerissen. Er fing sich wieder und schlug erneut zu. Diesmal glitt der Hammer an ihren Schilden ab, doch Elena erzitterte sichtlich unter dem Aufprall.
»Mit dir werde ich immer noch fertig, du Miststück!« Wieder schlug er zu, aber Elena sprang in einem Salto von der Mauer herunter und hinunter zwischen die Hütten
Weitere Kostenlose Bücher