Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
nur, weil sie für Gyle die Beine breitgemacht hatte, der schon immer blind gewesen war für ihre Unzulänglichkeiten. Er hatte es gehasst, wie sie ständig seine Autorität untergraben und ihn lächerlich gemacht hatte, wenn ihm bei einer Vorhersage auch nur der kleinste Fehler unterlaufen war. Wie erhebend war es gewesen, als sie endlich ihr wahres Gesicht gezeigt und sie alle verraten hatte. Endlich war er zu Gyles rechter Hand aufgestiegen. Anro Domla war nie eine Konkurrenz gewesen, aber Sordell hatte sich Sorgen gemacht, Vedya könnte dieselben miesen Tricks anwenden wie diese Anborn-Hure, um ihn aus dem Rennen zu schlagen. Glücklicherweise hatte Gyle diesmal Verstand bewiesen.
Gyles Abwesenheit beunruhigte ihn. Was, wenn etwas passierte? Er blickte sich nach Benet und Terraux um. Sie konnten verführen, erpressen und Wehrlose töten, darin waren sie gut, aber zu einem echten Kampf waren sie nicht zu gebrauchen. Nicht gegen jemanden wie Elena Anborn. Die ganze Woche über hatte er wie besessen die Zukunft erforscht. Er war beinahe absolut sicher, dass sie in Forensa festsaß, aber eine kleine Restsorge war geblieben.
An der Tür zum Mondturm stand Fuls Wache, ebenfalls ein Argundier, dessen wallendes braunes Haar halb von dem traditionellen, oben spitz zulaufenden Helm bedeckt wurde. Sordell wartete ab, bis Fuls nach dem Schlüssel fingerte, dann öffnete er selbst mit einer kleinen Handbewegung die Tür. Er liebte diese kleinen Machtdemonstrationen. Sie erhoben ihn über das gewöhnliche Volk, ließen die Menschen in seiner Gegenwart erschauern, machten so vieles wieder gut.
Benet lachte mal wieder über einen von Terraux’ Scherzen. Er sah sich wütend nach den beiden um und bedeutete ihnen, sich gefälligst zu beeilen. Dann schwebte er, getrieben von seiner inneren Anspannung, die Treppen hinauf und hängte die beiden Akolythen ab.
Im Dach des Mondturms befanden sich drei große Fenster. Sie waren unverglast, aber mit Schilden geschützt, die Insekten, Vögel und den Wind draußen hielten. Divination funktionierte am besten unter ungefiltertem Sternenlicht, so war der beste Energiefluss gewährleistet, während die Störeinflüsse abgewehrt werden konnten. Am Arkanum hatte er seine Abschlussarbeit zu dem Thema geschrieben … Oh, wie er die Zeiten vermisste, als er noch als wahrscheinlicher Nachfolger des Vorstehers galt, bis zu jenem unglückseligen Tag, an dem man ihn bei der Geisterbeschwörung erwischt hatte. Dabei waren es Waisen gewesen, nicht einmal richtige Kinder. All die verlorenen Jahre, verschwendete Zeit, bis Gurvon ihn angeheuert, ihm ein Amulett und einen neuen Lebensinhalt gegeben hatte. Allein für diesen Dienst verdiente Gyle seine bedingungslose Loyalität. Dafür, dass er seinen wahren Wert erkannt hatte. Eines Tages würde Sordell an Gyles Stelle treten. Im Gegensatz zu den anderen Toren, die versucht hatten, Gyle gewaltsam zu verdrängen, konnte er warten. Sie alle hatten einen blutigen Tod gefunden, denn Gyle merkte immer, wenn jemand etwas gegen ihn im Schilde führte.
Als Benet und Terraux endlich oben waren, schlug Sordell ihnen die Tür vor der Nase zu. Er musste sich konzentrieren. Es gab Gerüchte, die Harkun würden sich im Norden sammeln. Überaus ungewöhnlich . Was hatten sie dort zu suchen? Sordell entfachte ein Feuer in der Feuerschale in der Mitte des Raums, streute seine Pulver hinein, kanalisierte seine Fragen und betrachtete die Bilder, die im Rauch aufstiegen. Die Zeit raste nur so dahin, während er die Visionen sorgfältig interpretierte. Es war in der Tat etwas im Gange bei den Eingeborenen. Die Geister bestätigten es. Sordell sah Lagerfeuer in der Wüste, Jhafi, die in ungewöhnlich großer Zahl nach Norden unterwegs waren. Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Er würde Alfredo Gorgio raten, ein paar seiner Späher auszuschicken, vielleicht in Begleitung eines Magus’. Anro zum Beispiel . Da fielen ihm die Befestigungsanlagen ein. Sordell fluchte. Dann also Vedya . Es war ohnehin besser, sie rechtzeitig aus der Hauptstadt abzuziehen, bevor sie mit ihrer ruchlosen Rumvögelei das Verhältnis zu den Gorgio noch weiter belastete.
Am Rand seines Bewusstseins spürte er ein winziges Aufflackern von Domlas Erdgnosis, gleich gegenüber im Engelsturm. Aber Sordells Geist war zu sehr beschäftigt mit der Frage, wo die Jhafi sich sammeln, wo sie zuschlagen würden und wer ihr Anführer sein mochte. Dennoch ließ sein Instinkt nicht locker, und schließlich
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