Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
blickte Sordell auf, genau in dem Moment, als ein Beben durch den Engelsturm ging. Er hörte die Schreie der Männer, als der gesamte Turm sich mit alles zermalmender Gewalt gegen den Mondturm neigte. Ein entschlossener Magus hätte noch rechtzeitig reagieren können, aber Sordell war wie erstarrt. Er konnte seinen Geist nicht schnell genug zurückholen in die materielle Welt und sah tatenlos zu, wie der einstürzende Nachbarturm seinen eigenen mit ins Verderben riss.
Auf einem schmalen Steg aus Luftgnosis floh Elena vor den herabregnenden Trümmern. Die drei Krieger folgten auf dem Funkenschweif, den sie hinter sich herzog. Sie wagten nicht, nach unten zu schauen ins Nichts, auf Gedeih und Verderb den Kräften ihrer Anführerin ausgeliefert. Schon vor Jahren hatte Elena sich an jedem Turm die kritischen Punkte eingeprägt. Sie hatte Domlas Zerwirkgnosis heraufbeschworen und sie auf den Engelsturm gerichtet. Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als könnte er in die falsche Richtung kippen, doch dann war er genau auf den Mondturm gestürzt, wie sie es beabsichtigt hatte. Aus dem Turm schmetterten die Entsetzensschreie der eingeschlossenen Soldaten, und vom Hof schallte das Echo zurück, als auch die Patrouillen und Wachposten begriffen, was gerade geschah.
Die Spitze des Engelsturms krachte auf etwa einem Drittel der Höhe gegen den Mondturm. Steinsplitter spritzten in alle Richtungen, verteilten sich über den gesamten Burghof und flogen bis zum Graben. Elena spürte, wie unter den fallenden Mauersteinen und Dachbalken Leben um Leben erlosch. Ein Armbrustpfeil prallte an ihren Schilden ab und verschwand trudelnd in der Nacht.
»Weiter!«, brüllte sie über die Schulter und versuchte, nicht daran zu denken, dass ein einziger Gegenangriff alle drei sofort in die Tiefe stürzen lassen würde. Dann tauchten sie vor dem inzwischen eingestürzten Mondturm in die Staubwolken ein.
Der Platz, der eben noch in so beschaulicher Stille dagelegen hatte, war ein einziges Chaos. Laternen wurden aus Fenstern gehalten, darüber weit aufgerissene Augen, die versuchten, in der Verwüstung etwas zu erkennen. Das Pflaster auf dem Boden war zerschmettert, Holzbalken ragten aus dem Schutt wie die Rippen eines gefallenen Riesen. Elena sah nur wenige Tote – der Mondturm war nicht bewohnt, es hielten sich immer nur wenige dort auf. Sie erkannte die zerquetschten Überreste einer Dienerin und einen toten Argundier: Rutt Sordells Leibwächter Fuls. Elena rannte weiter und blies mit Luftgnosis die Schuttwolken beiseite, um ihre Opfer aufzuspüren.
Als Erstes entdeckte sie Terraux. Der arrogante kleine Widerling war bereits tot, von einer eingestürzten Mauer zu Brei zermalmt. Benet waren nirgendwo zu entdecken, aber sie hatte gespürt, wie er gestorben war. So weit, so gut. Nur: Wo steckte Sordell?
Da! Sie landete sanft und feuerte einen Gnosisblitz in den geschundenen Leichnam. Der Einschlag riss den leblosen Körper herum, aber Sordell rührte sich nicht. Immer noch vorsichtig trat sie an den Haufen aus zerfetztem Fleisch und zermahlenen Knochen heran. Offensichtlich hatte sie ihn kalt erwischt. Sordell hatte keine Affinität zur Erdgnosis, und in der kurzen Zeit war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich unter seinen Schilden zusammenzukauern und zu hoffen. Schilde waren gut gegen Geschosse, aber gegen eine tonnenschwere Steinlawine? Wohl weniger, wie der Zustand von Sordells Leichnam eindrucksvoll bewies.
Doch Rutt verfügte über andere Möglichkeiten: Er war ein Geisterbeschwörer. Diese Brut war noch schwerer umzubringen als Kakerlaken. Schon einmal hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wie er scheinbar tot wiederauferstanden war. Sie würde kein Risiko eingehen. Elena feuerte einen weiteren Blitz ab, und diesmal hörte sie ein leises Stöhnen, während Artaq schon auf den vermeintlich Toten zuging.
»Artaq, bleib weg!«
»Er ist tot, meine Dame. Ich werde mir sein …«
Ein schwarzer Lichtblitz zuckte aus einem von Sordells Fingern und fuhr dem Jhafi-Krieger in die Stirn. Artaq schrie auf und fiel hintenüber zu Boden.
Elena schoss Blitz um Blitz auf Sordell ab und eilte Artaq zu Hilfe. Sein Körper wurde wie von einem unsichtbaren Wind gepeitscht, die Gliedmaßen zuckten unkontrolliert. Rukka, er saugt ihm die Seele aus!
Sordell riss die Augen auf, und Elena warf sich auf ihn, das Schwert mit beiden Händen hoch erhoben. Sie durchstieß seine Schilde, Funken sprühten, und die Klinge bohrte sich in Sordells
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