Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
erleichtert, dass er keinen Alarm mehr geben konnte.
Mit schmalen Augen betrachtete Lorenzo den toten Soldaten. Er warf Elena einen finsteren Blick zu, dann half er Luca und Artaq wortlos, die Leiche aus dem Weg zu räumen.
Ich war nie die Frau, für die du mich gehalten hast, Lori . Sie nahm den Wasserschlauch von der Schulter und zog Anros Kopf hervor. Sie drehte den Schädel hin und her, und seine Augen flackerten. Er war schon zu weit weg, um zu sprechen, aber das spielte keine Rolle. Vedya hatte ihr einst erzählt, dass man in Sydia das Gehirn eines besiegten Gegners aß, um sich seine Stärke und sein Wissen einzuverleiben. Sie hatte geklungen, als habe sie es selbst schon einmal probiert. Laut Auffassung der Magi war das Gehirn der Sitz der Gnosis, was bedeutete, dass Elena jetzt Anro Domlas schwindende Kräfte in Händen hielt. Von seinem Intellekt war nicht mehr viel übrig, aber über seine Gnosis würde sie zumindest noch eine kurze Zeit lang gebieten können – wenn sie es ertrug.
Elena ließ den Blick über den Turm und die Wehrmauern schweifen. Die anderen Wachen waren weit genug weg. Anscheinend waren die Gorgio leichtsinnig geworden in der Überzeugung, Gyles Leute würden sie schon vor ihren Feinden beschützen. Eine irrige Annahme, die Elena gehörig zurechtrücken würde. Sie schaute hinüber zum Wohnturm, der in Abwesenheit von Mater-Lune fahlgrau im Sternenlicht schimmerte. Es war eins der ersten Dinge gewesen, die ihr aufgefallen waren, als sie vor vier Jahren nach Brochena gekommen war. Die Türme des Palasts waren dreißig Doppelschritte hoch und standen nur vierzig voneinander entfernt. Lächelnd machte sie sich daran, in Domlas Kopf einzudringen.
Rutt Sordell war nervös. Es war ein vertrautes Gefühl, diese ständige angespannte Angst davor, dass irgendwo etwas Unvorhergesehenes geschehen könnte. Im Moment machte er sich Sorgen um das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung. Die Gorgio verachteten sie, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Jhafi acht zu eins in der Überzahl waren. Das irritierte ihn. Seit sie hier beim Abendessen zusammensaßen, hatte Alfredo Gorgio nichts anderes getan, als sich selbstzufrieden den weißen Kinnbart zu kraulen und große Reden zu schwingen. Die Dorobonen würden bald zurückkehren, sagte er, und in ihren Diensten würde auch seine eigene Familie wieder zu ihrer einstigen Macht aufsteigen. Seine Selbstgefälligkeit war widerlich. Manchmal wünschte Sordell sich, ihr Auftrag wäre, die Gorgio zu vernichten. Doch dann fiel ihm jedes Mal wieder ein, dass er die Nesti ebenso sehr hasste, wenn auch aus anderen Gründen.
Plötzlich konnte Sordell die Gesellschaft all der durchlauchtigen Gorgio nicht mehr ertragen. Wortlos erhob er sich und ging. Kein sehr diplomatisches Verhalten, aber scheiß auf sie und scheiß auf Gurvon, der sich ausgerechnet in dieser kritischen Phase nach Bres davongemacht hatte. Er winkte seinen beiden Akolythen Benet und Terraux, und gemeinsam verließen sie den Saal. Die zwei hatten gerade erst in Argundy ihren Abschluss gemacht. Sordell hatte sie selbst ausgewählt, sie waren noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Stumm verfolgten die Gorgio ihren Abgang, um dann umso lauter draufloszuschnattern. Aber das kümmerte ihn nicht. Sordell hatte ein schmales Kinn, die ständigen Sorgen ließen ihn vorzeitig altern, gruben tiefe Furchen in die blasse Stirn und dezimierten das ohnehin dünne Haar. Zwar beherrschte er die Gestaltgnosis, und wenn er sie anwandte, könnte er sich jünger erscheinen lassen, hübscher, aber es war eine anstrengende Prozedur, und er konnte sich selten dazu aufraffen. Wenn er in der Stimmung war, konnte er sogar charmant sein, aber auch das war er selten, denn was kümmerte einen Mann wie ihn die Meinung Geringerer? Niedriges Geschmeiß wie Vedya Smlarsk hatte es nötig, Kraft und Energie auf Äußerlichkeiten zu verwenden, aber Sordell war zu Höherem geboren. Die Nacht würde er in Gesellschaft der Sterne verbringen, nicht mit Sterblichen. Er musste die Zukunft erforschen, sehen, welche Veränderungen die letzten Ereignisse bringen würden.
Sordell fragte sich, was Elena Anborn im Schilde führte. Auch sie verachtete er aus vielerlei Gründen. Er hasste sie, weil Gyle ihr in seiner Kabale eine wichtigere Rolle zugedacht hatte, obwohl sie nur ein Halbblut war. Er, Rutt Sordell, reinblütiger Magus aus altem Haus, hatte im Schatten einer Frau die zweite Geige spielen müssen, und das
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