Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
einen Haufen Schutt und begann wie wild zu wühlen. »Elena, seht!«
»Was? Luca, wir müssen verschwinden, jetzt!«
Aber der stämmige Javonier ignorierte sie. Er ging in die Knie und richtete sich ganz behutsam wieder auf. Er hielt etwas in den Armen. Strahlend drehte Luca sich zu ihnen um: Er hatte Solinde Nesti aus den Trümmern gezogen. Die Prinzessin war bewusstlos und zerschunden, aber am Leben.
Lorenzo drückte Elenas Arm. »Sol und Lune, die kleine Princessa!«
Elena war verblüfft. Sie muss weiter unten im Mondturm gewesen sein. Wie auf Urte hat sie das überlebt? Hatte sie Schilde, oder war sie in einer gnostisch geschützten Zelle eingekerkert? Doch die Fragen mussten warten, bis sie in Sicherheit waren. »Los jetzt«, hustete sie.
Elena, bist du das?
Elena spürte eine gedankliche Berührung, zart und höhnisch zugleich: Vedya.
Verflucht. »Wir müssen verschwinden, sofort! Luca, könnt Ihr die Princessa allein tragen?« Elena machte sich von Lorenzos Arm los und ließ das letzte bisschen Kraft, das sie noch hatte, in ihre Beine fließen. Sie war vollkommen am Ende. Bei jedem Atemzug schmerzte ihr Kehlkopf, Arme und Beine fühlten sich an wie morsche Zweige – ein unangenehmer Ausblick aufs Alter.
Pure Angst trieb sie an. Sie liefen durch menschenleere Straßen, bis sie hinter sich Hufe klappern hörten, und bogen in eine kleine Gasse ab. Hinter der Ecke übergab Luca die Prinzessin an Lorenzo und spannte seine Armbrust. Er lief ein paar Schritte zurück, kniete sich hin und schoss.
Ein Reiter schrie auf, sein Pferd wieherte, und sie hörten, wie es aufs Pflaster schlug.
Elena? Ah, da bist du. Vedyas Kichern hallte glockenhell durch ihren Geist.
»Schneller«, krächzte Elena. Panische Furcht packte sie. Wir können es nicht mit Vedya aufnehmen, nicht wenn ich so geschwächt bin …
Das Klatschen von Stiefeln auf dem Pflaster schallte durch die Straßen hinter ihnen. Luca hatte seine Armbrust nachgeladen und schoss erneut. Sie hörten einen weiteren Todesschrei, dann brüllte jemand: »Das ist eine Sackgasse! Sie sitzen in der Falle!«
Bloß nicht . Elena stellte sich vor, was Vedya mit ihnen machen würde, falls sie sie in die Finger bekam. »Lauft!«, flüsterte sie.
Ich komme, Elena, gurrte die sydianische Hexe.
Elena spürte sie, ungefähr eine Furchenlänge über und hinter ihnen. Sie kam schnell näher. »Durch das Loch in der Mauer, und dann verschwindet, Lori«, sagte sie, jetzt wieder vollkommen ruhig. »Bringt die Princessa in Sicherheit.«
Luca lief voraus zu dem Spalt, durch den sie gekommen waren – einer der vielen, die Domla noch nicht hatte reparieren können. Er schob Elena hindurch, dann half er Lorenzo mit Solinde. Ein Pfeil kam aus der Dunkelheit und prallte Funken sprühend von den Mauersteinen ab. Ein zweiter flog über ihre Köpfe hinweg durch den Spalt. Luca packte einen Stützbalken und zog mit aller Kraft daran, bis ein weiterer Teil der Mauer einstürzte und den Durchgang hinter ihnen versperrte.
Endlich waren sie auf der anderen Seite und blickten hinunter auf die verwinkelten Armensiedlungen der Jhafi. Lorenzo ging mit Solinde in den Armen voraus. Zum Glück war sie immer noch nicht bei Bewusstsein.
Luca half Elena die steile Böschung hinunter. Das Entsetzen über ihr Aussehen stand ihm überdeutlich im Gesicht geschrieben, aber er ließ sie nicht im Stich. Sie hatten gerade den Rand der Hütten erreicht, da erschien eine schimmernde Silhouette über der Mauer: Vedya. Sie trug ein blutrotes Seidenkleid, das rabenschwarze Haar umwehte sie wie die Schwingen eines Raben.
»Haben wir einen Plan hierfür, Elena?«, flüsterte Lorenzo und zog sie hinter ein halbhohes Stück Mauer.
Luca ging in die Hocke und spannte seine Armbrust, die Augen fest auf die Hexe gerichtet.
Gute Frage . »Ihr geht besser in Deckung, bevor …«
Vedya stürzte auf sie herab und feuerte genau in dem Moment, als Luca den Abzug drückte. Eine leuchtend blaue Flamme schoss aus ihren Fingern, fegte den Pfeil beiseite und schleuderte Luca gegen eine Lehmhütte. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schmerzensschrei, er zuckte kurz wie die Marionette eines verrückten Puppenspielers, dann blieb er liegen.
Vedya verschwand hinter einem Dach. Zweifellos fürchtete sie einen Gegenangriff, doch Elena war am Ende ihrer Kräfte.
Lorenzo legte Solinde auf den Boden und stellte sich schützend neben sie. Das geborstene Schwert in der Hand, suchte er mit den Augen den dunklen Himmel ab.
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