Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
das sich wimmernd an Jai klammerte. Sie war mollig und hatte sanfte, rundliche Gesichtszüge. Sie wirkte entsetzlich fehl am Platz. »Was kümmert dich das Mädchen?«, knurrte er Jamil an.
»Was sie mich kümmert? Sie gehört mir – das kümmert es mich. Gebt sie her.«
Kazim hob seinen Säbel und zuckte mit keiner Wimper. Er wusste , er konnte Jamil töten, und er sehnte sich danach. »Hau ab, Jamil. Wir wollen dich hier nicht. Geh, bevor die Ingashiri hier sind!«
»Wenn einer von euch sie auch nur anrührt, seid ihr alle tot.«
»Verschwinde endlich, du hässlicher Scheißkerl!« Einen Moment lang glaubte Kazim, der Hauptmann würde ihn angreifen, aber er tat es nicht. Mit einem finsteren Blick wendete er sein Pferd und galoppierte nach Westen davon. Kazim beobachtete ihn, bis er hinter der Düne verschwunden war. Dann sprang er vom Wagen.
Zusammen mit Jai machte er die Pferde los, dann luden sie ihnen auf, so viel die Tiere tragen konnten: Essen, Wasser, Decken und das Mädchen. Sie selbst würden zu Fuß nebenherlaufen. Sie beschlossen, nach Südwesten zu gehen, wo es flache Täler mit felsigem Boden gab. Hinter ihnen ertönten immer noch die markerschütternden Schreie der Letzten, die von den Ingashiri niedergemetzelt wurden.
Nach ein paar Stunden hatten sie felsigen Boden erreicht, auf dem sie keine Spuren mehr hinterlassen würden. Vor ihnen lag ein kleiner Taleinschnitt, in dem sie sich für den Rest des Tages versteckten und sich fragten, wie auf Urte sie das Massaker überlebt hatten.
Sie waren den ganzen Tag über unbehelligt geblieben, und bei Einbruch der Dunkelheit wagten sie sich wieder hervor. Jai hatte den ganzen Tag einen Arm um das Mädchen gelegt gehabt, das noch kein einziges Wort gesprochen, aber sofort lauthals angefangen hatte zu schreien, sobald Jai sich entfernt hatte. Haroun hatte Stunde um Stunde gebetet und Ahm befragt, weshalb er seine eigenen Kämpfer dem Untergang geweiht hatte. Das ständige Gemurmel hatte Kazim beinahe in den Wahnsinn getrieben, aber er hatte sich zurückgehalten. Sie alle hatten Angst. Und wer sollte sie jetzt noch beschützen, wenn nicht Ahm selbst?
»Sind wir nicht alle deine Kinder?«, klagte Haroun verbittert. »Beten nicht die Ingashiri genauso zu dir wie wir?« Und als es dunkel wurde, schien er endlich eine Antwort gefunden zu haben. »Ein Exempel wurde statuiert«, erklärte er Kazim. »Was wir erlebt haben, war ein Lehrbeispiel für schlimmstes Versagen. Wir wurden Zeugen, damit uns so etwas nie wieder passieren kann.«
Kazim hielt Harouns Interpretation für reichlich eigenwillig, aber ihn beschäftigten andere Fragen: wohin jetzt? Nach Norden ins Unbekannte oder nach Süden, auch wenn das all seinen Träumereien endgültig ein Ende setzen würde? Wie sollten sie die Ingashiri umgehen? Hatten sie genug Proviant und Wasser? Sollten sie lieber tagsüber oder nachts weitermarschieren? Die Antwort auf jede dieser Fragen war stets dieselbe: Er wusste es nicht.
Zumindest hatten sie etwas zu essen: geräuchertes Fleisch und Brot, das sie mit einem Schluck Arrak und etwas Wasser hinunterspülten – Beutegut aus dem Wagen. Selbst Tanuva Ankesharans Kochkünste waren nichts im Vergleich zu dieser wunderbaren Mahlzeit.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Kazim Haroun, nachdem alle gegessen hatten.
Der junge Schriftgelehrte kauerte mit an die Brust gezogenen Beinen auf dem Boden und schaukelte hin und her. »Ich weiß es nicht, Bruder. Mein Kopf sagt mir, wir sollten zurück nach Süden gehen und Aufklärung verlangen für das, was geschehen ist. Über dreitausend Mann, unterernährt, schlecht versorgt und unbewaffnet, auf einen mörderischen Marsch durch die Wüste geschickt, um sich von Banditen abschlachten zu lassen! Wo waren die Offiziere? Warum wurden diese Männer nicht ausgebildet, bevor wir Lakh verließen? Warum mussten so viele unserer Brüder diesen sinnlosen Tod sterben?« Er sah verwirrt aus und zornig, stocherte mit einem Messer im Sand herum, als wolle er die Wüste büßen lassen für das, was sie ihm angetan hatte. »Die Ingashiri lauern auf dem Rückweg bestimmt auf Überlebende, und wir haben nicht genug Proviant, um es bis nach Lakh zu schaffen. Die nächste Oase liegt sechs Tagesmärsche nördlich, hat einer der Soldaten letzte Nacht gesagt. Vielleicht finden wir sie. Alles, was ich weiß, ist: Uns drei allein hat Ahm verschont.« Sein Blick wanderte zu dem Mädchen hinüber. »Oder vier. Von über dreitausend. Falls du noch
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