Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
seinem eigenen Kommando und Karawanen von Wagenlieferungen stiegen vor seinem inneren Auge auf. Bei allen Göttern, wenn ich mir ein mehrstöckiges Lagerhaus leisten könnte, bis oben hin voll mit den erlesensten Waren, sodass selbst der Maharadscha bei mir einkauft …
Vikash schaute ihn durchdringend an. »Es kann doch nicht schaden, wenigstens mit dem Mann zu sprechen, oder, mein Freund?«
Ihre Blicke begegneten sich. Ispal atmete einmal tief durch. Ihm war schwindlig. Schließlich nickte er.
Vikash Nooradin führte Ispal in den halb verfallenen Innenhof eines alten Hawli. Das hölzerne Eingangstor hing schief in den Angeln, in einem stillgelegten Brunnen wucherten die Algen, und überall standen Schalen mit brennendem Räucherwerk, um den Fäulnisgestank zu überdecken, der über allem lag. Im Schatten einer Palme nahmen sie auf einer dunklen Veranda auf klapprigen Stühlen Platz, ein Diener brachte kalten Tee. Vikash nahm einen Schluck, dann erhob er das Wort. »Ispal, mein Freund, dies ist die Gelegenheit, auf die wir unser ganzes Leben gewartet haben. Drinnen wartet ein Mann namens Lowen Graav. Er kommt aus Rondelmar. Du kennst die Rondelmarer, Ispal, du hast gegen ihre Soldaten gekämpft, nicht wahr? Nun, dieser Graav ist der Agent eines reichen Ferang, und dieser Ferang sucht eine Frau – eine fruchtbare Frau, die ihm unter Garantie Zwillinge oder mehr gebiert. So wie deine Tochter.« Er lachte. »Alle sprechen von dir und deinen Kindern, Ispal. Du bist eine Berühmtheit in Baranasi: Der arme Ispal, was für ein Unglück, bei jeder Geburt bekommt er gleich eine ganze Armee, heißt es über dich.«
Tatsächlich? Ich hielt es immer für einen Segen .
»Der reiche Ferang ist eigens von Norden angereist.« Vikash fuhr sich durchs Haar, dann senkte er die Stimme. »Aus Hebusal«, flüsterte er.
Ispal war wie vom Donner gerührt: Hebusal, der Geburtsort des Propheten der Amteh, der Ort, an dem er all seine Ware und beinahe auch sein Leben verloren hatte. Wo er Raz Makani vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Vishnarayan, steh mir bei.
Vikash musste ihm seinen inneren Aufruhr angesehen haben und redete beschwörend auf ihn ein. »Ispal, dieser Mann hat ein ganzes Vermögen für die Hand einer Frau wie deiner Tochter geboten. Ein Vermögen , denk dir nur. Ist das nicht, wovon wir alle träumen? Ein einmaliges, großes Geschäft, das unser Leben für immer verän…«
»Aber meine Tochter …«
»Eine Tochter ist eine Ware wie jede andere auch, Ispal«, unterbrach ihn Vikash schroff. »Ich weiß, wir alle reden gern von Liebesheirat und ewigem Glück, aber die Wahrheit ist: Töchter müssen den heiraten, der der Familie am meisten einbringt.«
»Das stimmt, aber sie ist bereits versprochen.« Ispal verstummte, wie betäubt von der Aussicht auf Einfluss, darauf, etwas zu sagen zu haben unter den Mächtigen der Stadt, auch wenn er wusste, dass man in diesem Land oft besser beraten war, sich still und unbemerkt im Hintergrund zu halten. »Aber zumindest sprechen kann ich ja mit ihm«, sagte er schließlich und hasste sich noch im selben Augenblick dafür.
Vikash ging nach drinnen und kam mit einem weißhäutigen Mann mittleren Alters zurück. Unverkennbar ein Rondelmarer. Das Kinn war glatt rasiert, aber auf der Oberlippe trug er einen buschigen Schnauzbart und am Körper das traditionelle Gewand der Keshi. Er war schweißdurchtränkt, obwohl es auf der Veranda vergleichsweise kühl war. Aus seiner Heimat war er eindeutig ein kälteres Klima gewohnt.
»Meister Graav ist Handelsagent. Ursprünglich kommt er aus Verelon, aber jetzt hat er sein Kontor in Hebusal«, erklärte Vikash, wobei er einige Mühe hatte, die fremdländischen Namen auszusprechen.
Graav beherrschte die lakhische Sprache, wenn auch etwas ungelenk und mit yurischem Akzent, aber er war gut zu verstehen. Er erkundigte sich nach Ispals Familie. Ispal versicherte ihm, dass aus jeder Schwangerschaft seiner Frau oder ihrer Vorfahren, an die auch nur irgendjemand sich erinnern konnte, mindestens Zwillinge hervorgegangen waren.
Graav nickte nachdenklich. »Dann muss Eure Sippe groß sein«, merkte er an. »Viele Mädchen aus derselben Blutlinie.«
Ispal legte die Stirn in Falten. »So viele sind es nicht. Diese Besonderheit scheint nicht an die männlichen Nachkommen weitergegeben zu werden. Meine Schwäger bekommen nicht so viele Kinder. Außerdem sind so viele Mehrlingsgeburten sehr hart für eine Frau. Meine Frau hatte sechs Schwestern, drei
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